Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
und ihre Augen blickten groß und verwundert. »Gib es auf in Erinnerung an mich, ja, das sähe ich gern. Ich wollte, du schenktest mir deinen letzten Atemzug. Und mach es so, dass es schmerzt, Louis, mach, dass es schmerzt, damit ich von dem Wirbelwind aus sehen kann, wie dein Geist darum kämpft, sich von dem gequälten Körper zu befreien.«
Louis streckte die Hände nach ihr aus, aber Merrick fasste sein Handgelenk und stieß ihn zurück. Das Kind fuhr ohne Hast in begierigem Ton fort: »Ach, welche Wärme wird in meine Seele einziehen, wenn ich dich leiden sehe, ach, wie es mich auf meiner endlosen Irrfahrt antreiben wird! Niemals würde ich verweilen, um mit dir zusammen zu sein. Ich würde es mir nicht wünschen. Nie würde ich dich in den unergründlichen Tiefen suchen.« Auf ihrem Gesicht malte sich die reinste Neugier, als sie ihn ansah. Man konnte kein bisschen Hass in ihren Zügen entdecken. »Was für ein Hochmut«, hauchte sie lächelnd, »dass du aus deinem gewohnten Gefühl des Elends heraus mich zu dir rufst! Was für ein Hochmut, dass du mich hierher befiehlst, damit ich deine abgedroschenen Gebete erhöre!« Ein kurzes, eisiges Lachen klang auf. »Wie unermesslich groß ist doch dein Selbstmitleid«, sagte sie, »dass du keine Furcht vor mir hast, wo ich dir doch - gäbe diese Hexe oder irgendeine andere mir die Macht - mit eigenen Händen das Leben nehmen würde.« Dabei hob sie die kleinen Hände an ihr Gesicht, als wolle sie weinen, und ließ sie dann gleich wieder sinken. »Stirb für mich, verliebter Narr«, sagte sie mit vibrierender Stimme. »Ich glaube, das wird mir gefallen. Es wird mir ebenso gefallen wie die Leiden Lestats, an die ich mich nur schwach erinnern kann. Ja, ich glaube, weil du Schmerz littest, würde ich ganz kurz noch einmal erfahren, was Vergnügen heißt. Und nun, wenn du genug von mir hast, genug hast von meinen Spielsachen und deinen Erinnerungen, lass mich gehen, damit ich zu meiner Vergesslichkeit zurückkehren kann. Ich kann mich der Bedingungen für meine Verdammnis nicht erinnern. Ich fürchte, ich verstehe den Begriff Ewigkeit. Lass mich gehen.«
Doch ganz plötzlich bewegte sie sich vorwärts. Ihre zierliche rechte Hand riss das Jadewerkzeug von dem eisernen Tisch, und dann stürzte sie sich mit einem Satz auf Louis und stieß es ihm in die Brust. Er fiel nach vorn über den provisorischen Opfertisch, seine Rechte presste sich auf die Wunde, in die Claudia die Jadewaffe bohrte. Der Kessel fiel um und ergoss seinen Inhalt auf das Pflaster, Merrick schreckte sichtlich entsetzt zurück, und ich war zu keiner Bewegung fähig.
Blut strömte aus Louis’ Herz. Sein Gesicht war verzerrt, der Mund aufgerissen, die Augen geschlossen.
»Vergib mir«, flüsterte er. Reiner, schrecklicher Schmerz ließ ihn leise aufstöhnen.
»Geh zurück in die Hölle!«, schrie Merrick plötzlich und rannte mit ausgestreckten Armen auf das schwebende Trugbild zu, um es über den Kessel hinweg greifen zu können, aber das Kind entzog sich ihr mit der Leichtigkeit von Luft und hob die rechte Hand, in der sie immer noch das Jadewerkzeug hielt, und stieß Merrick zurück, während das eisige Gesichtchen die ganze Zeit über völlig unbewegt blieb.
Merrick stolperte über die Treppenstufen hinter ihr. Ich erwischte ihren Arm und zog sie auf die Füße. Wieder wandte sich das Kind Louis zu, immer noch die gefährliche Stichwaffe in den beiden kleinen Händen. Ihr weißes Kleid war vorn von der dunklen, brodelnden Flüssigkeit des Kessels befleckt, doch das bedeutete ihr nichts.
Der Inhalt des Kessels ergoss sich auf die Steine. »Hast du geglaubt, ich litte nicht, Vater?«, fragte die Gestalt mit ihrer leisen, zarten Mädchenstimme. »Hast du geglaubt, dass der Tod mich von allen Schmerzen befreit?« Ihr winziger Finger legte sich auf die Spitze des Jadewerkzeugs. »Das hast du geglaubt, nicht wahr, Vater?«, sagte sie langsam. »Und dass du, wenn diese Frau dir nur deinen Willen täte, vo n meinen Lippen den für dich so kostbaren Trost empfangen würdest. Du hast geglaubt, Gott würde dir dieses Geschenk machen, nicht wahr? Das schien dir nur recht und billig, nach all deinen Büßerjahren.« Louis drückte immer noch die Hand auf seine Wunde, obwohl sie sich schon schloss und das Blut nur noch träge unter seinen ge spreizten Fingern hervorquoll.
»Die Tore können dir nicht verschlossen bleiben, Claudia«, sagte er mit tränenfeuchten Augen. Seine Stimme war kraftvoll und gewiss.
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