Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
antworte deiner Dienerin Merrick - ihr Engel und Heiligen und du, gesegnete Mutter, ewige Jungfrau, zwingt Claudia, zwingt sie, meinen Befehlen zu gehorchen.« Ich konnte meine Augen nicht von dem rauchgleichen Dunkel wenden. Honey war fort, doch etwas anderes hatte ihren Platz eingenommen. Eben dieses Dunkel schien sich in die Form einer kleineren Gestalt zu fügen, undeutlich, aber an Kraft zunehmend, während es kurze Arme auszustrecken und sich dem Tisch zu nä hern schien, hinter dem wir standen. Es schwebte über dem Bo den, dieses zarte Wesen, die plötzlich aufblitzenden Augen befanden sich auf gleicher Höhe mit unseren, und seine Füße schritten im Nichts. Schon wurden die Hände deutlich sichtbar, ebenso wie das schimmernde goldene Haar.
Es war Claudia, es war das Kind von der Daguerreotypie, zierlich, mit weißem Gesicht, die Augen weit aufgerissen und glänzend, die Haut durchscheinend, die weiten fließenden Gewänder weich und vom Wind zerzaust. Ich trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Die Gestalt war stehen geblieben, sie schwebte immer noch über dem Boden, ihre blassen Arme hingen entspannt an ihr he rab. Sie war in dem trüben Licht so stofflich wie Honey damals vor vielen Jahren.
Auf den bezaubernden Gesichtszügen malte sich Liebe und erwachendes Fühlen. Es war ein Kind, ein lebendiges Kind. Man konnte es nicht leugnen. Da stand es.
Eine Stimme drang aus der Gestalt hervor, frisch und lieblich, mit dem natürlichen Timbre eines kleinen Mädchens. »Warum hast du mich gerufen, Louis?«, fragte es mit herzzerreißender Ernsthaftigkeit. »Warum hast zu deinem eigenen Trost meinen unruhigen Schlummer erweckt? Warum ge nügte dir die Erinnerung nicht?«
Ich fühlte mich vor Schwäche fast einer Ohmacht nahe. Die Augen des Kindes blitzten plötzlich Merrick an. Wieder erklang die klare, sanfte Stimme:
»Beende deine Beschwörungen und Befehle. Ich komme nicht zu dir, Merrick Mayfair. Ich komme zu dem dort, der zu deiner Rechten steht. Ich bin hier, weil ich wissen will, warum du mich gerufen hast, Louis. Was, Louis, soll ich dir nun geben? Habe ich dir nicht, als ich lebte, meine ganze Liebe gegeben?«
»Claudia«, murmelte Louis gequält, »wo weilt dein Geist? Hat er Ruhe gefunden, oder irrt er umher? Möchtest du, dass ich zu dir komme? Claudia, ich bin dazu bereit. Claudia, ich bin bereit, dir zur Seite zu treten.«
»Du? Du willst zu mir kommen?«, fragte das Kind. Die zarte Stimme hatte einen düsteren, überlegten Tonfall angenommen. »Du, du glaubst, dass ich, nach den vielen langen Jahren unter deiner bösen Vormundschaft, im Tode mit dir vereint sein möchte?« Die Stimme fuhr fort, der Ton blieb weich und süß, als spräche sie Liebesworte. »Ich verabscheue dich, mein übler Vater«, sprach sie, und die winzigen Lippen stießen ein finsteres Gelächter aus. »Vater, versteh mich recht«, flüsterte sie dann, während ihr Gesicht die sanftesten Gefühle ausdrückte. »Als ich noch lebte, fand ich nie die rechten Worte für die Wahrheiten, die ich dir zu sagen wünschte.« Man hörte sie tatsächlich atmen, und Verzweiflung schien sich sichtbar um das Geschöpf zu legen. »An diesem grenzenlosen Ort sind solche Flüche jedoch unnütz«, sagte die Stimme anrührend schlicht. »Was bedeutet sie mir nun, die Liebe, die du einst in einer pulsierenden, fiebrigaufgeregten Welt über mich häuftest?« Und als wolle sie ihm Trost zusprechen, fuhr Claudia fort: »Du willst Schwüre von mir hören … Unvorstellbar kalt ist mein Herz, und aus seiner tiefsten Tiefe verdamme ich dich - verdamme dich, weil du mir das Leben nahmst …« - die Stimme klang erschöpft, geschlagen - » … verdamme dich, weil du für das sterbliche Kind, das ich einst war, keine Barmherzigkeit hattest, verdamme dich, weil du in mir nur etwas sahst, das den Hunger deiner Augen und deiner unersättlichen Adern stillte … verdamme dich, weil du mich hinüberzogst in die lebendige Hölle, die du und Lestat euch so genüsslich teiltet.«
Die kleine, gefestigte Form kam näher heran, das leuchtende Gesicht mit den runden Wangen und den strahlenden Augen befand sich nun direkt gegenüber dem Kessel, die kleinen Hände waren geballt, doch gereckt. Ich hob die Hand. Ich wollte den Umriss berühren, der so lebendig wirkte. Und doch drängte es mich gleichzeitig, davon zurückzutreten, mich irgendwie davor zu schützen, Louis zu schützen - als ob das möglich gewesen wäre. »Nimm dir das Leben, ja«, sagte sie sanft,
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