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Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs

Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs

Titel: Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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sicher ist.«
    »Nein, nicht jetzt, meine Liebe«, antwortete er. »Ich muss dich verlassen. Oh, ich verspreche, wir sehen uns wieder. Lass mich nur jetzt allein. Ich verspreche dir alles, was du willst, damit du beruhigt bist. Ich sage dir Dank von ganzem Herzen. Aber lass mich gehen.«
    Er beugte sich nieder und rettete das kleine Bildnis von Claudia aus den Resten des Opfertisches. Dann ging er mit immer schnelleren Schritten auf den dunklen Seitenweg zu, wobei er die jungen Blätter der Bananenstauden aus dem Weg schob, bis er völlig in der vertrauten, unveränderlichen Nacht verschwunden war.

20
    Merrick hatte sich auf dem Bett der Großen Nananne im vorderen Schlafzimmer zusammengerollt, und ich ließ sie dort allein und ging zurück in den Garten. Ich hob die Bruchstücke des Jadewerkzeugs auf und fand auch die in zwei Teile zerborstene Maske. Erstaunlich, wie spröde der harte grüne Stein war! Wie falsch waren meine Absichten gewesen, und was für ein übles Re sultat war daraus entsprungen!
    Ich nahm die Teile mit ins Haus. Ich brachte es in meinem Aberglauben allerdings nicht über mich, meine Hände an Honeys Schädel zu legen.
    Die Jadescherben legte ich auf den Altar im Schlafzimmer, zwischen die Kerzen in ihren Glasbehältern, und dann hockte ich mich neben Merrick auf das Bett und nahm sie in die Arme. Sie drehte sich um und legte ihren Kopf an meine Schulter. Ihre Haut war fieberheiß und lieblich. Ich hätte sie am liebsten mit Küssen überschüttet, aber ich durfte diesem Impuls nicht nachgeben, so wenig ich dem gefährlicheren Impuls nachgeben durfte, ihren Pulsschlag mit meinem in Einklang zu bringen, indem ich ihr Blut trank.
    Ihr weißes Seidenkleid war von vertrocknetem Blut verklebt, ebenso wie die Innenseite ihres rechten Armes. »Ich hätte das niemals tun dürfen, niemals.« Ihr Tonfall war ge dämpft, voller Besorgnis. Ihre weichen, nachgiebigen Brüste schmiegten sich an mich. »Es war Wahnsinn! Ich wusste, was passieren würde. Ich wusste, dass sein Verstand die Katastrophe ge radezu herbeiführen würde. Ich wusste es. Und nun ist er verloren. Er ist verletzt und für uns beide verloren.«
    Ich hob ihren Kopf an, damit ich ihr in die Augen sehen konnte. Wie immer erschreckte und fesselte mich das leuchtende Grün, aber ich durfte mich jetzt nicht mit Merricks weiblichen Reizen befassen.
    »Aber dass es Claudia war, das glaubst du?«, fragte ich. »Oh ja«, bestätigte sie. Ihre Augen waren immer noch vom Weinen rot gerändert. Ich sah Tränen darin. »Es war Claudia«, erklärte sie. »Oder das Ding, das sich nun Claudia nennt. Aber was sie sagte, war gelogen.«
    »Wie kannst du das wissen?«
    »Genauso, wie ich weiß, wenn mich ein Mensch belügt. So, wie ich weiß, wenn jemand die Gedanken eines anderen liest und dann dessen Schwächen ausnutzt. Dieser Geist war feindlich gesinnt, sobald er ins Diesseits gerufen worden war. Er war verwirrt. Und er erzählte Lügen.«
    »Ich habe nicht spüren können, dass er log«, widersprach ich. »Aber verstehst du nicht?«, fragte sie. »Der Geist machte sich Louis’ allerschlimmste Ängste und seine mehr als morbiden Gedanken für seine eigenen Zwecke zu Nutze. Louis’ Kopf war voll mit den verbalen Werkzeugen, mit denen er sich selbst zur Verzweiflung treiben konnte. Er hörte nur, wovon er schon überzeugt war. Und was er auch ist - Wunder, Schreckensvision, verdammenswertes Ungeheuer -, er ist verloren. Für uns beide.«
    »Warum könnte der Geist nicht die reine Wahrheit gesagt haben?«, fragte ich.
    »Kein Geist spricht die reine Wahrheit«, behauptete Merrick. Sie wischte sich mit dem Handrücken über ihre geröteten Augen. Ich gab ihr mein Leinentaschentuch. Sie drückte es gegen ihre Lider, dann sah sie abermals zu mir auf. »Und ganz sicher nicht, wenn er beschworen wird. Er spricht nur die Wahrheit, wenn er ungerufen erscheint.«
    Ich dachte über diese Behauptung nach. Ich hörte sie nicht zum ersten Mal. Jedes Mitglied der Talamasca hatte sie schon einmal vernommen. Geistern, die man beschwört, kann man nicht trauen. Die ungerufen erscheinenden Geister sind zwar manchmal bereit, Ratschläge zu erteilen, aber genau genommen kann man keinem Geist trauen. Dieses Wissen war alt. Aber gerade jetzt verhalf es mir nicht unbedingt zu Trost oder Klarheit. »Dann willst du also sagen, dass diese Darstellung der Ewigkeit falsch war?«, sagte ich.
    »Ja«, ant wortete Merrick, »genau das meine ich.« Sie nahm erneut das Taschentuch und

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