Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
»Das wäre eine zu ungeheuerliche Grausamkeit -«
»Wem gegenüber, Vater?«, antwortete sie, ihm das Wort abschneidend. »Eine ungeheuerliche Grausamkeit dir gegenüber? Ich leide, Vater, ich leide, und ich irre umher. Ich weiß nichts, und alles, was ich einmal wusste, scheint mir nur Illusion! Ich habe nichts, Vater. Ich kenne keine Sinne mehr, nicht einmal als Erinnerung. Ich habe hier nichts, gar nichts.«
Ihre Stimme wurde schwächer, war jedoch immer noch deutlich vernehmbar. Ihre Züge nahmen einen Ausdruck an, als habe sie plötzlich etwas erkannt.
»Hast du geglaubt, ich käme dir mit Kindermärchen von Lestats Engeln?«, fragte sie in leisem, freundlichem Tonfall. »Dachtest du, ich malte dir ein Bild von den gläsernen Himmelsräumen mit Palästen und Bauwerken? Dachtest du, ich sänge dir Lieder, die der Morgenstern mich lehrte? Nein, Vater, solch himmlische Tröstungen wirst du mir nicht entlocken.« Und mit unterdrückter Stimme fuhr sie fort: »Und wenn du dich aufmachst, mir zu folgen, werde ich schon wieder verschollen sein, Vater. Wie könnte ich dir versprechen, da zu sein, als Zeuge deiner Schreie, deiner Tränen?« Das Bild begann zu zerfließen. Die großen dunklen Augen hefteten sich erst auf Merrick, dann auf mich. Schließlich sahen sie Louis wieder an. Claudia verging langsam. Das Jadewerkzeug ent fiel ihrer weißen Hand und schlug auf die Steine, wo es in zwei Stücke zerbrach.
»Komm, Louis«, sagte sie schwach, so dass der Klang ihrer Worte sich mit dem sanften Rascheln der Bäume mischte, »komm mit mir an diesen trüben Ort, und lass, was tröstlich ist, hinter dir zurück den Reichtum, deine Träume, deine bluttriefenden Freuden. Lass deine ewig hungrigen Augen zurück. Lass all das hinter dir, mein Liebster, verlass es für dieses düstere, unstoffliche Reich.« Die Gestalt war jetzt starr und flach, das Licht erhellte ihre undeutlichen Umrisse kaum noch. Als sie lächelte, waren die kleinen Lippen kaum noch auszumachen.
»Claudia, bitte, ich bitte dich«, sagte Louis. »Merrick, lass sie nicht in die Ungewisse Finsternis gehen! Merrick, le ite sie!« Aber Merrick rührte sich nicht.
Louis wandte sich wie rasend von Merrick ab und dem verblassenden Bild zu.
»Claudia!«, schrie er auf. Von ganzer Seele wünschte er sich, mehr zu sagen, doch hatte er keine Überzeugungskraft, nur Verzweiflung, das konnte ich fühlen und las es auf seinem von Gram verzerrten Gesicht.
Merrick stand im Hintergrund und starrte durch die schimmernde Maske. Die Hand hatte sie erhoben, als wolle sie den Geist abwehren, wenn er abermals zuschlagen sollte. »Komm zu mir, Vater«, sagte das Kind. Die Stimme war nun fast tonlos, von Gefühlen frei. Claudias Bild war dünn und durchscheinend. Die Umrisse des Gesichtchens verwischten langsam. Nur die Augen behielten noch ihren Glanz. »Komm zu mir«, hauchte sie mit brüchiger, dünner Stimme. »Komm unter Schmerzen, Schmerz als Opfergabe. Du wirst mich niemals finden. Komm!«
Für einen kurzen Augenblick sah man noch einen dunklen Umriss, dann war die Fläche leer, und der Hof mit seinem Schrein und den hohen, bedrohlichen Bäumen war still. Ich konnte nichts mehr von Claudia erkennen. Die Kerzen, was war mit den Kerzen? Sie waren alle ausgegangen. Vom Weihrauch sah man nur noch schwarzen Ruß auf dem Pflaster. Der Wind hatte ihn verweht. Aus den Zweigen sank ein träger Blätterregen nieder, und in der Luft hing eine feine, doch beißende Kälte. Nur der ferne Schimmer des Firmamentes gab uns Licht. Die scheußliche Kälte durchdrang meine Kleider und legte sich auf meine Haut. Mit einem Ausdruck unaussprechlichen Kummers spähte Louis in die Dunkelheit. Er begann zu zittern. Tränen standen in seinen verständnislosen Augen, doch sie flossen nicht. Plötzlich riss sich Merrick die Jademaske vom Gesicht und stieß die beiden Tische und den Kessel um, so dass alles zu Boden stürzte. Dann schleuderte sie die Maske ins Gebüsch neben der Hintertreppe.
Entsetzt starrte ich auf Honeys Schädel, der mitten zwischen den fortgeschleuderten Gegenständen lag. Bitterer Rauch stieg von den nassen Kohlen auf. In der verschütteten Flüssigkeit schwammen die verkohlten Überreste der Puppe, und der juwelenbesetzte goldene Messkelch kullerte über den Boden. Merrick packte Louis an beiden Armen. »Komm ins Haus«, sagte sie, »komm jetzt fort von diesem grauenvollen Platz. Komm mit mir ins Haus, wo wir die Lampen anzünden könne n. Komm ins Haus, wo es warm und
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