Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
wissen konnte. Es war unanständig von mir gewesen, ihm nicht zu schreiben! Lieber Gott, selbst Jesse hatte mir geschrieben, als sie aus der Talamasca verschwunden war!
Merrick sprach weiter. Wenn sie überhaupt in meinen Gedanken lesen konnte, zeigte sie es nicht.
»Natürlich hat Aaron alles über diesen ›faustischen Körpertausch‹, wie er es bezeichnete, aufgeschrieben. Er beschrieb dich, wie du in diesem jungen Körper aussahst, und bezog sich mehr fach auf diverse Untersuchungen an diesem Körper, die ihr beide vorgenommen hattet und die euch bestätigten, dass die ur sprüngliche Seele tatsächlich ins Jenseits eingegangen war. Du und Aaron, ihr habt ein paar Experimente gemacht, stimmt’s? Ihr habt versucht, Kontakt mit der Seele aufzunehmen, der der Körper von Rechts wegen gehörte, und habt dabei deinen Tod riskiert.«
Ich war verzweifelt und beschämt und nickte nur, unfähig zu sprechen.
»Was den elenden Körperdieb anging, diesen kleinen Teufel namens Raglan James, der dieses ganze übersinnliche Theater in Gang gesetzt hatte - Aaron war überzeugt, dass dessen Seele fort war, in die Ewigkeit eingegangen, wie er es ausdrückte.«
»Das ist wahr«, pflichtete ich bei. »Ich bin der absoluten Überzeugung, dass seine Akte geschlossen ist, ob sie nun vollständig ist oder nicht.«
Merricks traurige, respektvolle Miene verdüsterte sich. Verletzte Gefühle drängten ans Licht, und sie schwieg. »Was hat Aaron sonst noch geschrieben?«, fragte ich sie. »Er wies darauf hin, dass die Talamasca inoffiziell dem ›neuen David‹ behilflich war, seine nicht unerheblichen Kapitalanlagen und Besitztümer zurückzugewinnen«, antwortete sie. »Er war ganz entschieden der Ansicht, dass über ›Davids zweite Jugend‹ keine Akte angelegt werden dürfe, weder für die Londoner noch für die römischen Archive.«
»Warum wollte er nicht, dass dieser Körpertausch gründlich untersucht wird?«, wollte ich wissen. »Wir hatten für die Seelen der beiden anderen alles getan, was in unserer Macht stand.«
»Aaron schrieb, dass dieses ganze Problem des Körpertauschs zu gefährlich, zu verlockend sei. Er fürchtete, dass das Material darüber in falsche Hände geraten könnte.«
»Das verstehe ich«, antwortete ich. »Obwohl wir solche Zweifel früher nie kannten.«
»Aber er hatte die Akte noch nicht abgeschlossen«, fuhr Merrick fort. »Aaron war sich sicher, dass er dich wiedersehen würde. Er glaubte, hier in New Orleans manchmal deine Gegenwart spüren zu können. Er ertappte sich immer wieder dabei, wie er in der Menge nach deinem neuen Gesicht suchte.«
»Gott vergebe mir«, flüsterte ich. Ich hätte mich beinahe abgewandt. Stattdessen neigte ich den Kopf und verbarg eine Zeit lang meine Augen. Mein alter Freund, meine geliebter alter Freund … Wie hatte ich ihn so eiskalt im Stich lassen können? Wieso ist man aus Scham und Selbstekel derart grausam gegen die Unwissenden? Wieso geschieht das so oft? »Bitte, sprich weiter«, sagte ich, mich zusammenreißend. »Ich möchte, dass du mir alles darüber erzählst.«
»Willst du es nicht selbst lesen?«
»Später«, sagte ich.
Merrick fuhr fort. Ihre Zunge hatte sich durch den Rum ein wenig gelockert, und ihre Stimme klang melodiös, ein Hauch des alten französischen Akzents hatte sich zurückgemeldet. »Aaron hatte den Vampir Lestat einmal in deiner Begleitung gesehen. Er sagte, die Erfahrung sei verstörend gewesen, ein Wort, das er liebte, aber nur selten benutzte. Er sagte, es sei in der Nacht gewesen, in der er gekommen war, um deinen alten Körper zu identifizieren und sich um ein anständiges Begräbnis zu kümmern. Und dann sah er dich, den jungen Mann, und der Vampir stand neben dir. Aaron hat gewusst, dass ihr auf sehr vertrautem Fuß miteinander standet, du und dieses Geschöpf. Er hatte Angst um dich wie selten in seinem Leben.«
»Was weißt du noch?«, fragte ich.
»Später, als du ganz und gar verschwunden warst«, fuhr sie leise und respektvoll fort, »war sich Aaron sicher, dass Lestat dich unter Gewaltanwendung zum Vampir ge macht hatte. Es gab keine andere Erklärung für das plötzliche Ausbleiben jeglicher Mitteilungen, da sowohl deine Banken als auch deine Agenten klar und deutlich erklärten, dass du noch am Leben seist. Aaron hat dich schrecklich vermisst. Die Probleme mit den weißen Mayfairs - den Mayfair-Hexen - hatten ihn aufgezehrt. Er brauchte deinen Rat. Immer wieder schrieb er in den unterschiedlichsten
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