Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
und sei es nur, um Lebewohl zu sagen.«
Ich empfand tiefe Zerknirschung. Eine Zeit lang saß ich nur untätig da und gab dem Gefühl nach, welch ungeheuer große Ungerechtigkeit ich Aaron angetan hatte. Endlich zwang ich mich zu einer Bewegung. Ich faltete die Blätter ordentlich zusammen, schob sie zurück in den Umschlag und blieb dann mit hängendem Kopf, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, für lange Zeit ganz still sitzen. Die Klänge des Cembalos waren schon vor Minuten verstummt, und sosehr ich sie auch liebte, hatten sie doch meine Gedankengänge gestört, so dass mir die Stille sehr angenehm war. Ich war so tieftraurig wie noch nie, so hoffnungslos wie noch nie. Aarons Sterblichkeit schien mir ebenso real, wie mir sein Leben real erschienen war. Und beides schien unendlich wunderbar. Was die Talamasca betraf, war mir klar, dass diese Organisation ihre Wunden selbst heilen würde. Ich fürchtete nicht wirklich um sie, obwohl Aaron Recht gehabt hatte, einiges im Zusammenhang mit den Ältesten misstrauisch zu betrachten, bis die Frage ihrer Identität und ihrer Befugnisse gelöst war. Als ich den Orden verließ, wurde diese Frage bereits hitzig debattiert. Vorkommnisse im Zusammenhang mit geheimen Ange legenheiten hatten zu Korruption und Verrat geführt. Der Mord an Aaron gehörte auch dazu. Der berüchtigte Körperdieb, der Lestat verführt hatte, war früher einer von uns gewesen. Wer waren die Ältesten? Waren sie selbst korrupt? Das glaubte ich kaum. Die Talamasca war uralt und eine Autorität, und sie bewegte sich in Bezug auf irdische Angelegenheiten nur langsam vom Fleck, sozusagen in VatikanGeschwindigkeit. Aber zu all dem hatte ich jetzt keinen Zugang mehr. Menschliche Wesen mussten nun die Talamasca säubern und reformieren, womit sie auch scho n begonnen hatten. Ich konnte bei diesem Unterfangen nicht helfen.
Aber soweit ich wusste, waren die internen Schwierigkeiten schon geregelt. Wie genau und durch wen, war mir nicht bekannt, und ich wollte es auch wirklich nicht wissen. Ich wusste nur, dass die, die mir lieb waren, einschließlich Merrick, dem Orden versöhnlich gegenüberstanden, wenn es mir auch so schien, dass Merrick und auch die andern, denen ich hin und wieder nachspionierte, eine »realistischere« Einstellung gegenüber dem Orden und seinen Problemen hatten, als es bei mir je der Fall gewesen war.
Und was ich getan hatte, indem ich mit Merrick sprach, musste natürlich zwischen uns beiden ein Geheimnis bleiben. Aber wie kam ich überhaupt dazu, ein Geheimnis mit einer Hexe zu teilen, die mich so direkt und effektiv und hemmungslos mit einem Zauber belegt hatte? Daran zu denken machte mich schon wieder bitterböse. Ich wünschte, ich hätte die Petrusfigur mitge nommen. Das wäre ihr nur recht geschehen. Was hatte Merrick wohl mit dieser ganzen Geschichte bezwecken wollen - mich auf ihre Fähigkeiten hinweisen, mir eindringlich klar machen, dass Louis und ich, als erdgebundene Geschöpfe, nicht immun gegen ihre Kräfte waren, oder wollte sie zeigen, dass unser Plan tatsächlich gefährlich war? Mit einem Mal fühlte ich mich müde. Ich hatte, wie schon erwähnt, getrunken, ehe ich mich mit Merrick traf, und ich brauchte kein Blut. Aber angeheizt durch den körperlichen Kontakt mit Merrick und noch gesteigert durch die Fantasien über sie, hatte ich großes Verlangen danach, und nun fühlte ich mich von dem anstrengenden Widerstand ganz schläfrig, schläfrig auch durch meinen Kummer um Aaron, der ohne ein einziges Wort des Trostes von mir ins Grab gesunken war. Ich wollte mich gerade auf der Couch niederlege n, als heitere Töne an mein Ohr drangen, Töne, die ich sofort wiedererkannte, obwohl ich sie seit Jahren nicht aus nächster Nähe gehört hatte. Er war der Gesang eines Kanarienvogels, der außerdem in seinem Käfig umherhüpfte und so das Metall zum Klingen brachte. Ich hörte das Flügelschwirren, das Quietschen seiner kleinen Schaukel, oder wie man das Ding nannte, und das knarrende Geräusch, mit dem der Käfig an seinem Haken schwankte. Und nun erklang auch wieder die Cembalomusik, sehr schnell, schneller eigentlich, als menschenmöglich war. Sie sprudelte förmlich, wie wahnsinnig und von Magie durchdrungen, diese Musik, als ob ein übernatürliches Wesen sich auf die Tasten ge stürzt hätte.
Mir wurde im gleichen Moment klar, dass Lestat nicht hier war, gar nicht hier gewesen war, und dass diese Klänge - die Musik und die gedämpften Geräusche der Vögel -
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