Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
Freund Aaron, dass ich mich zusammenriss und mir seine Papiere vornahm. Alles andere konnte warten, sagte ich mir.
Die alte Frau spukte mir jedoch noch immer im Kopf herum. Ich sehnte mich danach, dass Louis kam. Ich wollte diese Angelegenheit mit ihm durchsprechen. Es war wichtig, dass ich ihm einiges im Zusammenhang mit Merrick verständlich machte, aber ich hatte keine Ahnung, wo er zu dieser Zeit sein mochte. Die Cembaloklänge waren ein wenig tröstlich, was ja bei Mozarts heiteren Kompositionen oft der Fall ist, aber trotzdem fühlte ich mich in den warmen Räumen, in denen ich sonst viele gemütliche Stunden allein oder mit Louis oder Lestat verbrachte, rastlos und gefährdet.
Doch ich entschloss mich, mein Unwohlsein erst einmal zu verdrängen.
Eigentlich war gerade jetzt der richtige Zeitpunkt, Aarons Notizen zu lesen.
Ich stand wieder auf, zog das Jackett aus, setzte mich an den geräumigen Schreibtisch, der praktischerweise so stand, dass man mit dem Rücken zur Wand saß, da wir alle drei beim Arbeiten nur ungern dem Raum den Rücken zukehrten. Ich öffnete den Umschlag und zog die Blätter heraus, die ich nun zu lesen gedachte. Es waren gar nicht so viele, und eine kurze Prüfung zeigte, dass Merrick mir bereits einen vollständigen Überblick über Aarons letzte Gedankengänge gegeben hatte. Trotzdem schuldete ich es ihm, seine Aufzeichnungen zu lesen, Wort für Wort.
Innerhalb kürzester Zeit hatte ich alles um mich herum vergessen, und obwohl Aaron das Geschriebene in Latein abgefasst hatte, klang mir schon bald seine vertraute Stimme mit der englischen Version im Ohr. Es war, als wäre er hier, ginge alles noch einmal mit mir durch oder läse mir seinen Bericht vor, damit ich meine Kommentare dazu abgeben konnte, ehe er ihn an die Ältesten sandte.
Aaron beschrieb, wie er nach Florida gekommen war, um mich zu sehen, und dort den bejahrten Körper seines Freundes David Talbot tot und zur Beisetzung zurechtgemacht vorgefunden hatte, während Davids Seele sich fest im Körper eines unbekannten jungen Mannes verankert hatte.
Der junge Mann war Anglo-Inder, 1,90 Meter groß, hatte welliges dunkelbraunes Haar, bronzefarbene Haut und sehr große, einfühlsame dunkelbraune Augen. Der Gesundheitszustand des jungen Mannes war ausgezeichnet, ebenso seine Kondition. Er besaß ein scharfes Gehör und einen guten Gleichgewichtssinn. In ihm schien keine andere Seele zu wohnen als die von David Talbot. Aaron beschrieb im Folgenden, wie ich während unserer Zeit in Miami meinen Geist immer wieder aus diesem Körper herausge löst und den Körper anschließend erneut vollkommen übernommen hatte, wobei kein geistiger Widerstand von irgendeiner bekannten oder unbekannten - spirituellen Ebene zu erkennen gewesen war.
Schließlich, nach etwa einem Monat solcher Experimente, war ich überzeugt gewesen, dass ich in diesem jugendfrischen Körper verbleiben konnte, und ich hatte begonnen, alle möglichen Informationen über die Seele zusammenzutragen, die ihn früher beherrscht hatte.
Die damit zusammenhängenden Einzelheiten will ich hier nicht anführen, da sie Personen betreffen, die mit dieser Erzählung in keiner Weise verbunden sind. Es genügt zu sagen, dass Aaron und ich zu unserer Zufriedenheit feststellten, dass die Seele, die meinen neuen Körper einst befehligt hatte, ohne Wiederkehr verschwunden war. Krankenhausunterlagen, die sich auf die letzten irdischen Monate dieses Individuums bezogen, machten mehr als deutlich, dass sein »Geist« zerstört war, sowohl durch psycho logische Verheerungen als auch durch einen ausgefallenen Cocktail bestimmter Drogen, die der Mann konsumiert hatte, wobei die Gehirnzellen allerdings nicht geschädigt worden waren. Ich, David Talbot, war im vollen Besitz des Körpers und konnte von einer Schädigung des Gehirns nichts feststellen. Aaron hatte sehr ausführlich erläutert, wie ungeschickt ich in den ersten Tagen aufgrund der neuen Körpergröße gewesen war und wie er beobachten konnte, dass dieser »fremde« Körper nach und nach zu seinem alten Freund David wurde: indem ich gewohnheitsgemäß dazu überging, mich mit übereinander geschlagenen Beinen in einen Sessel zu setzen oder die Arme über der Brust zu verschränken oder gebeugt über meiner Schreibarbeit oder meinem Lesestoff zu kauern.
Aaron merkte auch an, dass David Talbot die bessere Sehkraft seiner neuen Augen als großen Segen empfand, da in den letzten Jahren sein eigenes Augenlicht sehr stark
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