Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
betagten Kirchgängerin, die ihren Rosenkranz betet.
»Sie glauben, ich habe etwas Schlimmes vor?«, fragte ich. Doch die Gestalt war plötzlich verschwunden. Verschwunden Vergangenheit. Ich sprach zu der leeren Luft. Ich drehte mich auf dem Absatz um und warf der Heiligenfigur einen wütenden Blick zu. Sie schien nur ein beliebiger Gegenstand zu sein, mehr nicht. Ich überlegte ernstlich, sie auf dem Boden zu zerschmettern, aber in meinem Kopf schwirrte alles, was mein Vorhaben und die Folgen daraus betraf, wild durcheinander. In diesem Augenblick erklang ein ohrenbetäubendes Pochen an der Zimmertür. Nun, es erschien mir ohrenbetäubend. Ich vermute, es war ein ganz gewöhnliches Pochen. Ich schreckte entsetzt zusammen, riss die Tür auf und fragte verärgert: »Was zum Teufel wollen Sie?«
Zu meiner Verwunderung richtete ich meine Worte an einen ganz gewöhnlichen, unschuldigen Hotelangestellten. »Nichts, entschuldigen Sie, mein Herr«, sagte er mit schleppendem südlichen Tonfall. »Das ist für die Dame.« Dabei hob er einen kleinen weißen Umschlag empor, den ich entgegennahm.
»Ach, einen Moment«, murmelte ich, während ich in meiner Tasche nach einem der Zehndollarscheine fummelte, die ich extra zu diesem Zweck eingesteckt hatte. Der Mann nahm ihn erfreut an.
Ich schloss die Tür wieder. Der Umschlag enthielt die lederne Haarspange, die ich im Taxi so stürmisch aus Merricks Haar entfernt hatte. Sie bestand aus einem ovalen Lederstreifen und einer lederüberzogenen langen Nadel, mit der man das Haar zusammenfassen und bändigen konnte. Ich bebte am ganzen Körper. Das war ungeheuerlich. Wie zur Hölle war das Ding hierher gekommen? Mir schien es unmöglich, dass der Taxifahrer es gefunden hatte. Aber andererseits, wieso nicht? Ich hatte zwar für einen kurzen Moment erwogen, die Spange wieder aufzuheben und einzustecken, aber ich hatte wohl unter einem gewissen Zwang gestanden … Ich ging zu dem Altar, legte die Spange vor Papa Legba nieder, seinen Blick vermeidend, und verließ die Suite auf dem kürzesten Wege, ging die Treppe hinunter und an der Rezeption vorbei aus dem Hotel.
Dieses Mal, schwor ich mir, würde ich auf nichts achten, nach nichts Ausschau halten. Ich ging geradewegs nach Hause. Wenn am Wege Geister lauerten, sah ich sie nicht, denn ich hielt meine Augen zu Boden gerichtet und bewegte mich, so schnell ich konnte, ohne Unruhe unter den Sterblichen zu stiften. Ohne Umwege ging ich durch die Zufahrt in den Innenhof und dann über die eisernen Stufen hinauf in die Wohnung.
4
Entgegen meinen Erwartungen war das Apartment in Dunkelheit getaucht, und Louis fand ich weder im vorderen noch im hinteren Salon, noch in seinem Zimmer. Und Lestat, nun, dessen Zimmertür war geschlossen und die wunderbaren Cembaloklänge - in rasantem Tempo gespielt - schienen aus den Wänden zu dringen, ein Effekt, der bei modernen CD-Aufnahmen häufig auftritt.
Ich machte im vorderen Salon alle Lampen an und ließ mich mit Aarons Papieren auf der Couch nieder. Ich sagte mir, dass eine wichtige Arbeit vor mir lag.
Es hatte keinen Sinn, noch einen Gedanken an Merrick und ihre Beschwörungen und Geister zu verschwenden oder an die Erscheinung der alten Frau mit dem winzigen, verrunzelten Gesicht und ihrem unverständlichen Geflüster zu denken. Erbittert dachte ich stattdessen an meinen orisha, Oxalá. Die Jahre, die ich vor langer Zeit in Rio verbracht hatte, waren eine Zeit ernsthafter Hingabe gewesen. Ich hatte an Candomble geglaubt, soweit ich, David Talbot, überhaupt an etwas glauben konnte. Ich hatte mich dieser Religion verschrieben, soweit ich überhaupt fähig war, mich auf etwas einzulassen. Und ich war Oxalás Anhänger und Anbeter geworden. Viele Male war ich von ihm besessen gewesen, und ich hatte mich genauestens an seine Regeln gehalten.
Aber das alles war in meinem Leben nur ein Abstecher gewesen, ein Zwischenspiel. Letzten Endes war ich ein britischer Gelehrter, vorher und auch danach wieder. Und als ich erst einmal in die Talamasca eingetreten war, brach die Macht, die Oxalá oder sonst ein Schutzgeist über mich gehabt hatte, für immer. Nichtsdestoweniger war ich nun verwirrt und hatte Schuldgefühle. Ich war zu Merrick gegangen, um mit ihr über Hexerei zu reden, und hatte geglaubt, die Ereignisse unter Kontrolle zu haben. Doch gleich die erste Nacht war unendlich ernüchternd gewesen. Jetzt musste ich erst einmal Klarheit in meinen Gedanken schaffen. Ich schuldete es zudem meinem alten
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