Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
Drogenkonsum überlassen hatten. Ruhig und zügig ging Louis voran in die überwucherte Hintergasse zur Rückseite der baufälligen Hütte. Geräuschlos lugte er durch das enge, über einer summenden Klimaanlage angebrachte Fenster auf die bekümmerte alte Frau, die gerade das Gesicht des friedlichen Babys abtupfte. Die Frau murmelte wieder und wieder hörbar vor sich hin, dass sie nicht wüsste, was sie mit den jungen Leuten anfangen sollte. Haus und Heim hatten sie zerstört, und ihr hatten sie das elende kleine Ding überlassen, das verhungern oder durch Vernachlässigung sterben würde, wenn die trunksüchtige, zügellose junge Mutter gezwungen wäre, selbst für das Kind zu sorgen. Es schien, als wäre ein Todesengel in Louis’ Gestalt an dieses Fenster getreten.
Als ich über seine Schulter hinweg einen Blick in den Raum warf, konnte ich die Alte besser sehen und entdeckte, dass sie sich nicht nur um das Kind kümmerte, sondern außerdem Kleidung an einem niedrigen Bügelbrett bügelte, das ihr erlaubte, diese Tätigkeit im Sitzen auszuüben; dabei langte sie wieder und wieder in den Korbwagen, um das Baby zu trösten. Der Geruch nach frisch gebügelter Wäsche war irgendwie köstlich, ein angenehmer Duft nach heißem, leicht angesengtem Baumwoll- und Leinenstoff. Und nun sah ich auch, dass überall im Zimmer Wäsche lag, und schloss daraus, dass die Frau für diese Bügelarbeit bezahlt wurde.
»Gott helfe mir«, murmelte sie beim Bügeln unter Kopfschütteln vor sich hin, ihre Stimme ein auf- und absteigender Singsang, »ich wünschte, du würdest mir dieses Mädchen abnehmen, sie und ihre Freundin. Gott, hilf mir, ich wünschte, du würdest mich aus diesem Tal erlösen, o Herr, in dem ich schon so lange weile.«
Das Zimmer hier war freundlich eingerichtet, und die gehäkelten Schondeckchen auf den Sessellehnen und der saubere Linoleumboden, der glänzte, als sei er erst kürzlich gebohnert worden, zeigten, dass der Haushalt gepflegt wurde. Die alte Frau war plump gebaut und trug ihr Haar am Hinterkopf zu einem Knoten geschlungen.
Als Louis weiterging, um die Hinterzimmer des Hauses zu untersuchen, fuhr die alte Frau mit ihren Gebeten fort, ohne etwas zu bemerken.
Die Küche, ebenso blitzsauber, zeigte den gleichen blanken Linoleumboden, das Geschirr war gespült und stand zum Abtropfen neben der Spüle.
Doch die zur Frontseite gelegenen Räume waren eine Sache für sich. Hier hausten die jungen Leute in absoluter Verkommenheit; die eine lag ausgestreckt auf einem Bett, auf dessen verschmutzte Matratze kein Laken gespannt war, und die andere bemitleidens werte Gestalt war im Wohnraum, bis zum Rauschzustand abgefüllt mit Drogen. Den beiden armseligen Wesen konnte man nicht auf den ersten Blick ansehen, dass sie weiblich waren. Im Gegenteil, ihre scheußlich kurz geschorenen Haare, die ausge zehrten, in Jeans gehüllten Glieder gaben ihnen ein traurig geschlechtsloses Aussehen. Und die ringsum verstreuten Kleiderhäufen gaben keinen Hinweis auf eine Vorliebe für männliche oder weibliche Kleidung. Ich fand dieses Schauspiel unerträglich.
Natürlich hatte Marius uns, ehe er New Orleans verließ, sehr deutlich gewarnt: Wir würden sehr schnell wahnsinnig, wenn wir uns bei unserer Jagd nicht ausschließlich auf die Übeltäter beschränkten. Von den Unschuldigen zu trinken ist eine erhebende Erfahrung, aber es führt unvermeidlich dazu, dass man eine tiefe Liebe zum menschlichen Leben entwickelt, und kein Vampir kann das lange ertragen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich in dieser Hinsicht mit Marius übereinstimme, und ich glaube fest, dass andere Bluttrinker, obwohl sie von den Unschuldigen trinken, sehr gut durchkommen. Aber ich habe mir dieses Konzept, nur die Bösen zu jagen, zu Eigen gemacht, weil es mir meinen Seelenfrieden schenkt. Die intime Bekanntschaft mit dem Bösen muss ich eben ertragen.
Louis betrat das Haus durch eine Seitentür, die für diese Art Schlichthaus typisch ist: Sie haben keinen Flur oder Windfang, sondern die Zimmer liegen wie auf einer Schnur hintereinander aufgereiht.
Ich blieb draußen in dem verunkrauteten Garten an der frischen Luft. Hin und wieder schaute ich Trost suchend auf zu den Sternen, doch wehte mir plötzlich ein überwältigender Gestank von Erbrochenem und Fäkalien entgegen, der aus dem kleinen Bad des Hauses drang, das abgesehen von dem erst kürzlich auf dem Bo den gelandeten ekligen Auswurf ebenfalls von Reinlichkeit zeugte. Die beiden jungen Frauen
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