Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
persönlich glaube nicht, dass es um ihn so einfach und eindeutig steht, wie die anderen geneigt sind anzune hmen. Bei der obigen Schilderung habe ich Ihnen, was seinen komaartigen Schlummer und die Sache mit der Musik betrifft, bisher eigentlich eher ein »offizielles Statement« gegeben, wie man so schön sagt. Aber seine körperliche Anwesenheit hat doch einige sehr beunruhigende Aspekte, die ich nicht leugnen oder erklären kann. Da er mich zu einem Vampir machte, ich also sein Zögling bin und ihm dadurch geistig viel zu nahe stehe, bin ich nicht in der Lage, seine Gedanken zu lesen. Dennoch fallen mir bestimmte Dinge an ihm auf, während er Stunde um Stunde daliegt und den brillanten, aufwühlenden Klängen Beethovens, Brahms’, Bachs, Chopins, Verdis und Tschaikowskys lauscht und all den anderen Komponisten, die er so liebt. Ich habe Marius, Pandora und Armand gegenüber die »Zweifel« eingestanden, die ich über sein Wohlbefinden hege. Aber keiner von ihnen konnte den Schleier übersinnlichen Schweigens durchdringen, den er um sein gesamtes Sein, um Körper und Seele, gehüllt hat.
»Er ist erschöpft«, sagen sie. »Er wird bald wieder der Alte sein.« Und: »Er wird wieder zu sich kommen.«
Das bezweifele ich nicht. Nicht im Geringsten. Aber um es ganz klar zu sagen, mit ihm stimmt etwas nicht, und zwar in einem Ausmaß, wie es keiner von ihnen vermutet. Es gibt Zeiten, in denen er sich nicht in seinem Körper befindet. Nun könnte das bedeuten, dass er seine Seele aus seinem Körper herausprojiziert hat, um willentlich in reiner geistiger Gestalt umherzuschweifen. Lestat weiß natürlich, wie man das bewerkstelligt. Er hat es von dem ältesten aller Vampire gelernt; er bewies, dass er es kann, als er den Tausch mit dem bösartigen Körperdieb vollzog. Aber Lestat mag diese Fähigkeit nicht. Und sie für mehr als nur einen sehr kurzen Zeitraum zu nutzen, dazu neigt keiner, dem man seinen Körper schon einmal gestohlen hat.
Ich spüre, dass da etwas viel Gravierenderes mit ihm nicht in Ordnung ist, dass Lestat weder seinen Körper noch seine Seele ständig unter Kontrolle hat, und wir müssen geduldig herausfinden, ob in ihm zurzeit irgendein Kampf abläuft und wie er enden wird.
Rein äußerlich gesehen, liegt er auf dem Boden seiner Kapelle oder auf seinem Himmelbett im Stadthaus, die Augen, die nichts wahrzunehmen scheinen, weit geöffnet. Und nach der blutigen Säuberungsaktion wechselte er sogar von Zeit zu Zeit seine Kleidung, wobei er, wie einst, die roten Samtjacketts zusammen mit seinen spitzenbesetzten Leinenhemden und den engen Hosen und schlichten schwarzen Stiefeln bevorzugte. Andere haben dieses Interesse für seine Garderobe als gutes Zeichen gewertet. Ich glaube, dass Lestat uns damit nur ablenken wollte, damit wir ihn in Ruhe lassen.
Mehr habe ich zu diesem Thema hier leider nicht zu sagen. Denke ich jedenfalls. Ich kann Lestat vor nichts beschützen, und außerdem hat keiner von uns ihn je schützen oder von irgendetwas abhalten können, gleichgültig, was für betrüblichen Umständen er unterworfen war.
Also lassen Sie mich zu meinen Aufzeichnungen der Geschehnisse zurückkehren.
Louis und ich waren tief in das Elendsviertel der Stadt vorgedrungen, wo viele Häuser verlassen standen; die wenigen, die noch bewohnt wirkten, waren durch Eisenstäbe vor Fenstern und Türen fest verrammelt.
Wie in jedem Viertel von New Orleans, so erreichten wir auch hier nach wenigen Häuserblocks eine Einkaufsstraße, und hier fanden wir viele längst aufgegebene, mit Brettern vernagelte Läden. Nur ein Vergnügungslokal, wie es sich nannte, schien frequentiert zu werden, und die Leute drinnen waren betrunken und brachten die Nacht mit Karten- und Würfelspiel hin. Als wir jedoch unseren Weg fortsetzten, ich immer auf Louis’ Fersen, da er diesmal der Jäger war, kamen wir bald zu einer kleinen Behausung, die sich zwischen zwei betagte Ladenfronten duckte. Es war ein heruntergekommenes Häuschen ohne Komfort, dessen Eingangsstufen in dem wuchernden Unkraut untergingen.
Dass sich Menschen darin aufhielten, spürte ich sofort und ebenso ihre unterschiedliche Verfassung.
Die ersten Gedanken, die ich auffing, kamen von einer alten Frau, die über ein Baby in einem billigen Korbwagen wachte, eine Frau, die eifrig betete, dass Gott sie aus diesen Verhältnissen erlösen möge - Verhältnisse, zu denen zwei junge Leute beitrugen, die sich in einem der vorderen Räume des Hauses dem Alkohol- und
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