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Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs

Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs

Titel: Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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wusste alles, was ich erlebt hatte. Meine Candomble-Erfahrungen hatte ich immer übergangen, als wären sie unbedeutend.
    Und was den »Einsamen Geist« anging, natürlich wusste ich, was sie damit meinte. Der »Einsame Geist«, das ist eine gequälte Seele, eine Seele aus dem Fegefeuer oder eine noch elendig der Erde verhaftete, die einen dabei unterstützt, die Götter oder solche Seelen anzurufen, die schon in einem anderen Reich sind. Das war eine alte Geschichte. So alt wie die Magie, die es schon immer gab, ganz gleich, unter welchem Namen und in welchem Land sie ausgeübt wurde.
    »Oh ja, du bist schon ein Gelehrter!«, sagte die alte Frau und lächelte mich an, so dass ich ihre falschen Zähne sah, gelb wie sie selbst; dabei wirkten ihre Augen viel lebhafter als zuvor. »Wie steht es um deine eigene Seele?«
    »Wir sind nicht hier, um uns um solche Sachen zu kümmern«, konterte ich, ganz verunsichert. »Sie wissen, dass ich Ihr Patenkind beschützen will. Das können Sie doch sicherlich in meinem Herzen lesen?«
    »Ja, Candomble-Priester«, sie wiederholte das Wort, »und Sie sahen Ihre Vorfahren, als Sie in den Kelch schauten, nicht wahr?«
    Immer noch lächelte sie. Ihre dunkle Stimme hatte einen unheimlichen Klang. »Und sie sagten Ihnen, dass Sie heimgehen sollten, sonst würden Sie ihre englische Seele verlieren.« Das alles stimmte und stimmte auch wieder nicht, und plötzlich platzte es aus mir heraus:
    »Sie wissen einen Teil, aber Sie wissen nicht alles«, erklärte ich. »Man darf die Magie nur zum Guten benutze n. Haben Sie Merrick das gelehrt?« In meiner Stimme klang Zorn mit, den die alte Frau nicht verdient hatte. Neidete ich ihr jetzt etwa ihre Fähigkeiten? Ich konnte meine Zunge nicht im Zaum halten. »Wie konnten Sie trotz ihrer magischen Kräfte in diese unglückliche Lage kommen!«, sagte ich, während ich auf den Raum ringsum wies. »Ist dies der richtige Ort für ein schönes Kind?« Aaron bat mich sofort, zu schweigen. Selbst der Priester kam aus seiner verborgenen Ecke und schaute mir in die Augen. Als ermahnte er ein Kind, so schüttelte er mit traurig gerunzelten Brauen den Kopf und wedelte einen Zeigefinger vor meinen Augen hin und her.
    Die Alte lachte ein kurzes, trockenes Lachen. »Sie finden sie schön! Nicht wahr, Herr Engländer?«, sagte sie. »Ihr Engländer mögt Kinder.«
    »Nichts ist von der Wahrheit weiter entfernt, wenn Sie mich meinen!«, erklärte ich, von ihrer Unterstellung beleidigt. »Sie glauben doch selbst nicht, was Sie sagen. Sie reden nur, um andere zu blenden. Sie selbst haben das Kind ganz allein, ohne Begleitung, zu Aaron geschickt.« Im gleichen Moment bereute ich die Worte. Bestimmt würde der Priester protestieren, wenn es so weit war, dass wir Merrick mit uns nehmen wollten. Aber ich sah nun, dass mein schockierend harscher Ton ihn von weiterem Widerspruch abhalten würde.
    Der arme Aaron wand sich verlegen. Ich benahm mich wie ein Ungeheuer. Mir war meine ganze Selbstbeherrschung abhanden gekommen, ich war zornig auf eine alte Frau, die vor meinen eigenen Augen starb.
    Aber als ich zu Merrick schaute, sah ich nichts als pfiffiges Amüsement in ihrer Miene, möglicherweise sogar ein wenig Stolz oder Triumph, und dann fing sie mit ihrem Blick die Augen der alten Frau ein, und sie tauschten eine stumme Botschaft aus, und die anderen Anwesenden würden warten müssen, bis das abge schlossen war.
    »Sie werden sich um mein Patenkind gut kümmern, das weiß ich«, sagte die Alte. Die runzeligen Lider schlossen sich über ihren Augäpfeln. Ich sah, wie sich ihre Brust unter dem weißen Flanell mühsam hob und senk te. Ihre Hand, die lose auf den Steppdecken lag, zitterte. »Sie werden sich nicht vor dem, was sie bewirken kann, fürchten.«
    »Nein, ich werde mich niemals fürchten«, sagte ich achtungsvoll, eifrig bemüht, Frieden zu schließen. Ich trat näher an das Bett heran. »Bei uns ist sie vor allem geschützt, Madam. Warum versuchen Sie, mir Furcht einzujagen?«
    Es schien fast, als könnte sie die Augen nicht mehr öffnen. Endlich gelang es ihr, und sie schaute mich abermals unmittelbar an.
    »Ich habe hier meinen Frieden, David Talbot«, sagte sie. Ich konnte mich nicht erinnern, dass ihr jemand meinen Namen genannt hatte. »So, wie es hier ist, will ich es, und dieses Kind, es war hier immer glücklich. Es gibt in diesem Haus viele Räume.«
    »Was ich zu Ihnen gesagt habe, tut mir Leid«, antwortete ich rasch. »Ich hatte kein Recht dazu.«

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