Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
ist eine Art Zaubermeister, eine Hexe, eine sprichwörtliche Medea, und wir beide können von Magie genauso überwältigt werden wie jede andere irdische Kreatur.«
»Ich habe keine zweideutigen Wünsche«, sagte Louis. »Ich will nur eines - Claudias Geist sehen.«
Ich konnte nicht anders, ich musste lächeln. Ich glaube, das verletzte ihn. Sofort tat es mir Leid.
»Du siehst doch sicher das Gefährliche daran, den Weg in die Übernatürliche Welt zu öffnen«, drang ich in ihn. »Aber zuerst lass mich erzählen, was ich über Merrick weiß, das, was ich meine, dir sagen zu müssen.«
Ich begann, ihm der Reihe nach meine Erinnerungen zu erzählen. Nur wenige Tage nachdem Merrick vor zwanzig Jahren nach Oak Haven gekommen war, hatten Aaron und ich uns mit ihr zusammen nach New Orleans aufgemacht, um die Große Nananne zu besuchen. Die Erinnerung daran war noch sehr lebhaft. Die letzten kühlen Frühlingstage waren vorbei, und heißes, feuchtes Wetter hatte eingesetzt, was ich sehr erfreulich gefunden hatte, da ich die Tropen so sehr liebe. Ich fühlte nicht das mindeste Bedauern, London hinter mir gelassen zu haben. Merrick hatte uns Nanannes Sterbetag, den ihr die alte Frau enthüllt hatte, immer noch nicht genannt. Und Aaron wusste absolut nichts, obwohl er in ihrem Traum die Person gewesen war, die ihr das verhängnisvolle Datum mitgeteilt hatte. Wenn mich Aaron auch auf den alten Teil von New Orleans, zu dem wir nun unterwegs waren, vorbereitet hatte, so war der Anblick dieses Viertels doch eine Überraschung für mich. Vernachlässigte Bauten in allen Größen und Stilrichtungen ertranken in den über alles hinwegwuchernden Oleanderbüschen, die in der feuchten Hitze unzählige Blüten trieben. Und mein Staunen steigerte sich noch, als vor uns das landhausähnliche Gebäude auftauchte, das der Großen Nananne gehörte.
Der Tag war, wie erwähnt, schwül und warm, mit plötzlichen heftigen Regengüssen, und obwohl ich nun schon seit fünf Jahren ein Vampir bin, kann ich mich immer noch lebhaft daran erinnern, wie zwischen den einzelnen Schauern immer wieder die Sonne aufblitzte und auf den schmalen, geborstenen Gehwegen glänzte. Überall aus dem Rinnstein, der eigentlich nichts anderes als ein offener Graben war, spross das Unkraut empor, und rings um uns reckten sich wirre Büschel von Eiche, Regenbaum und Baumwollsprösslingen in die Höhe, als wir uns zu dem Anwesen begaben, das Merrick nun verlassen wollte. Schließlich erreichten wir ein von einem hohen, eisernen Staketenzaun umgebenes Haus, das wesentlich größer als die anderen in dem Viertel war und wesentlich älter.
Es war eines dieser für Louisiana typischen Häuser, dessen Fundament aus etwa 1,50 Meter hohen Ziegelpfeilern bestand; im Zentrum der Hausfront führte eine hölzerne Treppe zu einer Veranda hinauf. Eine schlichte Säulenreihe im neoklassizistischen Stil stützte das Dach der Veranda, und das Eingangsportal ähnelte mit seinem fächerförmigen Oberlicht dem Portal von Oak Haven, dem Talamasca-Besitz, der allerdings ansonsten wesentlich großartiger war. Die Fenster der Vorderfront erstreckten sich über die ganze Höhe des Stockwerkes, waren jedoch alle mit Zeitungspapier überklebt, wodurch das Haus heruntergekommen und unbewohnt wirkte. Die Eiben, die auf beiden Seiten der Veranda ihre verkrümmten Aste gen Himmel streckten, ließen das Gebäude noch unwirtlicher erscheinen, und die leere Diele, in die wir eintraten, war düster, obwohl sie sich über die ganze Länge des Hauses bis zu einer offen stehenden Hintertür hinzog. Eine Treppe zum Dachgeschoss war nicht zu sehen, doch es musste zumindest einen Boden geben, überlegte ich, denn das Haus hatte ein tief herabgezogenes Dach. Jenseits der offenen Hintertür sah man ineinander verschlungenes Grün. Die Etage dieses Hauses bestand aus sechs Räumen - je drei hintereinander rechts und links von der Diele, und in dem ersten Zimmer auf der linken Seite fanden wir die Große Nananne unter einer Schicht handgenähter Patchwork-Steppdecken in einem riesigen Plantagenbett aus glattem Mahagoniholz, das zwar vier hohe Bettpfosten, jedoch keinen Baldachin besaß. Ich bezeichne diese Art Möbelstücke mit dem Begriff Plantagenstil, weil sie so entsetzlich groß sind, und nur allzu oft werden sie in die kleinen Zimmer einer Stadtwohnung gequetscht, bei denen man sie sich unwillkürlich in der geräumigen Weite eines Landhauses vorstellt, für das diese Möbel wohl vorgesehen sein
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