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Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs

Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs

Titel: Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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mussten. Die konisch zulaufenden Bettpfosten waren zwar kunstvoll gearbeitet, aber ansonsten glatt und schmucklos.
    Als ich die kleine, alte Frau mit dem verhutzelten Gesicht auf dem fleckenübersäten Kissen liegen sah, der Körper unter den abgenutzten Steppdecken vollkommen verborgen, dachte ich eine Sekunde lang, sie wäre tot. Nach allem, was ich über Geister und Menschen wusste, hätte ich sogar schwören können, dass der ausgetrocknete kleine Körper in dem Bett keine Seele mehr beherbergte. Vielleicht hatte sie vom Tod geträumt oder ihn so sehr herbeigewünscht, dass sie ihre sterbliche Hülle für einen kurzen Moment verlassen hatte.
    Aber als das Kind, Merrick, im Türrahmen stand, kam die Große Nananne zu sich und öffnete ihre kleinen, runzeligen gelben Augen. Obwohl das Alter ihre Haut ausgebleicht hatte, zeigte sie doch noch immer einen herrlichen Goldton. Ihre Nase war klein und flach, und um ihren Mund hatte sich ein beständiges Lä cheln eingegraben. Ihr Haupthaar bestand nur noch aus grauen Büscheln und Strähnen.
    Schäbige behelfsmäßige elektrische Lampen waren die einzige Lichtquelle, sah man von einer Unmenge Kerzen auf einem großen Schrein ab. Es war eine Art Altar, mehr konnte ich nicht erkennen, da er vor den mit Papier verklebten Scheiben an der Frontseite des Hauses stand und so in Dämmerlicht getaucht schien. Und außerdem richtete sich meine Aufmerksamkeit als Erstes auf die Menschen.
    Aaron rückte einen Rohrstuhl mit hohem Rücken ans Bett, damit er neben der Frau sitzen konnte. Dem Bett entströmte ein Geruch nach Krankheit und Urin.
    Ich sah, dass die abbröckelnden Wände dicht an dicht mit Zeitungen und großen grellbunten Heiligenbildern tapeziert waren. Kein Stückchen Wand war zu sehen, nur die Decke war frei, an der jedoch die Farbe abblätterte, und die sich darauf ausbreitenden Risse waren wahrscheinlich eine Gefährdung für alle Anwesenden. Nur die Fenster an der Seitenwand hatten Vorhänge, doch viele Scheiben waren zerbrochen, und die eine oder andere Stelle war mit Zeitungspapier überklebt. Jenseits der Fenster türmte sich düster das immergrüne Blattwerk. »Wir werden Pflegerinnen für Sie besorgen, Große Nananne«, sagte Aaron mit gütigem Ernst. »Vergeben Sie mir, dass ich erst so spät komme.« Er beugte sich vor. »Sie müssen mir voll und ganz vertrauen. Wir werden uns, sobald wir Sie heute Nachmittag verlassen, um eine Pflegerin bemühen.«
    »Sie sind gekommen?«, fragte die alte Frau, die tief in das Federkissen eingesunken lag. »Habe ich Sie - oder Sie beide jemals um Ihr Kommen gebeten?« Sie hatte keinen französischen Ak zent. Ihre Stimme war verblüffend alterslos, dunkel und kraftvoll. »Merrick, chérie, setz dich ein Weilchen zu mir«, sagte sie.
    »Schweigen Sie, Mr. Lightner. Niemand hat Sie zu kommen gebeten.«
    Ihr Arm hob und senkte sich wie ein Zweig im Luftzug, und so leblos wirkte er auch in Form und Farbe, die Finger bogen ich einwärts, als sie kratzend über Merricks Kleid fuhren. »Sieh nur, Große Nananne, was Mr. Lightner mir gekauft hat«, sagte Merrick neben ihr, während sie auf ihr neues Kleid hinabsah und die Arme demonstrativ spreizte.
    Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie im Sonntagsstaat dastand weißes Pikeekleid und schwarze Lackschuhe. Die kurzen weißen Söckchen wirkten irgendwie fehl am Platz an einem derart weit entwickelten jungen Mädchen, aber Aaron sah in ihr nur das unschuldige Kind.
    Merrick beugte sich zu der alten Frau hinab und drückte ihr einen Kuss auf den winzigen Kopf. »Sorge dich meinetwegen nicht länger«, sagte sie. »Ich bin nun bei ihnen daheim, Große Nananne.«
    In diesem Augenblick betrat ein Priester den Raum, ein großer Mann mit hängenden Schultern und langsamen Bewegungen, im gleichen Alter wie die Nananne, schien mir, man ahnte dürre Glieder unter dem langen schwarzen Priesterrock, auf dem der Ledergurt lose über schrumpfenden Knochen hing; die Perlen des Rosenkranzes pochten sachte gegen seinen Schenkel. Er schien unsere Gegenwart überhaupt nicht wahrzunehmen, sondern nickte nur der alten Frau zu und schlüpfte dann ohne ein Wort hinaus. Wie er über den Schrein dort drüben denken mochte, konnte ich mir nicht vorstellen.
    Ich fühlte eine instinktive Wachsamkeit, eine Ahnung, dass er uns vielleicht hindern würde - aus gutem Grund -, das Kind Merrick mitzunehmen. Man konnte nie wissen, ob ein Priester nicht von der Talamasca gehört oder - durch Weisungen aus Rom - Furcht und

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