Chronik der Vampire 07 - Merrick oder die Schuld des Vampirs
die Kissen zu drücken, doch das Gewicht der Decken erschien viel zu schwer, als dass sie sich den dringend ersehnten Raum hätte schaffen können. Was sollten wir tun? Man kann eine Ewigkeit zum Sterben brauchen oder auch nur eine Sekunde. Auch ich hatte Angst.
Der Priester kam herein und stellte sich vor uns an das Bett, so dass er ihr ins Gesicht sehen konnte. Sein Hand war nicht weniger verschrumpelt als ihre.
»Talamasca«, hauchte die alte Frau. »Talamasca, nimm mein Kind, Talamasca, behüte mein Kind.«
Ich dachte, ich würde gleich selbst in Tränen ausbrechen. Ich hatte schon an vielen Sterbebetten gestanden. Es ist nie leicht, es hat etwas wahnsinnig Aufpeitschendes an sich, die allumfassende Furcht vor dem Tod entfacht eine Erregung wie am Anfang einer Schlacht, wenn es doch in Wirklichkeit das Ende ist. »Talamasca«, sagte sie noch einmal.
Das musste der Priester doch gehört haben. Aber er achtete überhaupt nicht darauf. Sein Geist war nicht schwer zu durchdringen. Er war nur hier, um für die Frau, die er kannte und achtete, die Sterberituale durchzuführen. Der Schrein hatte für ihn nichts Schockierendes.
»Gott wartet auf dich, Große Nananne«, sagte er sanft. Er hatte einen starken lokalen Akzent, der ziemlich ländlich klang. »Gott erwartet dich, und vielleicht sind auch Honey in the Sunshine und Cold Sandra dort.«
»Cold Sandra«, seufzte die alte Frau mit einem ungewollten lang gezogenen Zischlaut. »Cold Sandra«, wiederholte sie wie ein Gebet. »Honey in the Sunshine … in Gottes Hand.« Das alles verstörte Merrick sehr. Man konnte es ganz klar in ihrer Miene lesen. Dieses Mädchen, das die ganze Zeit über so stark gewirkt hatte, schien nun ganz zerbrechlich, als würde ihr das Herz abgedrückt.
Die alte Frau war noch nicht am Ende. »Verschwende deine Zeit nicht damit, nach Cold Sandra zu suchen oder nach Honey in the Sunshine«, sagte sie. Sie umklammerte Merricks Handgelenk noch fester. »Überlass mir die beiden. Cold Sandra, das ist eine, die für einen Mann ihr Baby im Stich ließ. Weine nicht um die kalte Sandra. Zünde deine Kerzen für andere an. Weine um mich.« Merrick war außer sich. Sie weinte lautlos. Sie beugte sich nieder und legte ihren Kopf auf das Kissen neben die alte Frau, die ihren welken Arm um die kraftlos herabsinkenden Schultern des Kindes legte.
»Mein Kleines, du, mein kleines Mädchen«, sagte sie, »weine nicht wegen Cold Sandra. Cold Sandra nahm Honey in the Sunshine mit sich auf den Weg zur Hölle.« Der Priester zog sich vom Bett zurück. Er hatte leise zu beten begonnen, ein englisches »Gegrüßt seiest du, Maria«, und als er zu den Worten kam: »Bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes«, hob er zaghaft und sanft die Stimme. »Ich werde es dir sagen, wenn ich die beiden finde«, murmelte die Große Nananne. »Heiliger Petrus, lass mich das Tor durchschreiten, heiliger Petrus, lass mich hindurch.«
Ich wusste, dass sie Papa Legba anrief. Vielleicht waren die beiden eins für sie, Papa Legba und der heilige Petrus. Möglicherweise wusste der Priester das sogar.
Er rückte jetzt wieder an das Bett. Aaron trat respektvoll zurück. Merrick veränderte ihre Haltung nicht, sie hatte das Gesicht im Kissen vergraben und ihre rechte Hand an die Wange der alten Frau geschmiegt.
Der Priester hob die Hände zum lateinischen Segen: In nomine patris et filii et spiritus sancti, amen.
Ich hatte das Gefühl, der Anstand geböte es uns zu gehen, aber Aaron machte keine Anstalten. Mit welchen Recht blieb ich hier? Wieder betrachtete ich den schauerlichen Altar und die große Statue des heiligen Petrus mit dem Himmelsschlüssel; sie war der, die ich Jahre später - nämlich erst vergangene Nacht in Merricks Hotelzimmer sehen sollte, sehr ähnlich. Ich entfernte mich vom Bett und ging in den Korridor. Ich schaute zur Hintertür hinaus, ich wusste selbst nicht, warum, vielleicht um zu sehen, wie der Regen das Blattwerk der Bäume dunkel färbte. Mein Herz pochte heftig. Die großen, nassen Tropfen platschten lärmend auf die Türschwellen und hinterließen ihre Spuren auf dem fleckigen alten Dielenboden. Ich hörte Merricks lautes Weinen. Die Zeit stand still wie nur an einem warmen Nachmittag in New Orleans. Plötzlich jammerte Merrick laut auf, und Aaron legte den Arm um sie. Es war gleichsam ein Erwachen, als mir klar wurde, dass die alte Frau dort in dem Bett gestorben war.
Ich war erschüttert. Ich hatte sie kaum eine Stunde
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