Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
von der nachfolgenden »Story« gewürdigt zu werden. Was dann folgt, geht aber weit über die Beschwörung von Natur und Lokalkolorit hinaus, und ist einer der großen und intensiven Erzähltexte Lovecrafts, sozusagen eine Anti-Idylle. Geschrieben im August 1928 (nach längeren Reisen Lovecrafts), konnte ›The Dunwich Horror‹ relativ zügig in Weird Tales, April 1929 erscheinen, wo die Geschichte bei den Leserinnen und Lesern enthusiastische Echos auslöste. Lovecraft erhielt 240 $, die größte Summe, die ihm bis dahin je für einen Text bezahlt worden war.
Ein wesentlicher Aspekt von Lovecrafts artifizieller Mythologie des Unheimlichen ist die Vernetzung seiner Erzählungen mit denen anderer Autoren. In seinem Frühwerk ist das vor allem Lord Dunsany; hier nun ist es Arthur Machen (1863–1947). ›The Dunwich Horror‹ enthält eine beträchtliche Zahl von impliziten und expliziten Anspielungen auf das Erzählwerk des großen waliser Fantasten. Vor allem ist eine gute Kenntnis von ›The Great God Pan‹ (1890–1894) und ›The White People‹ (1899) unerlässlich, wenn man die Tiefen von ›The Dunwich Horror‹ ausloten will. Machens beide Novellen sind freilich nicht einfach und bedürfen selbst einer eingehenden Beschäftigung, um auch nur ihre Handlung wirklich zu verstehen. Dr. Armitage (der »positive« – aber ganz unheldische – »Held« unserer Erzählung, dem die Bannung des Bösen gelingt) vergleicht an einer Schlüsselstelle die Geburt Wilbur Whateleys (die vom Dorftratsch für das Ergebnis einer inzestuösen Verbindung zwischen Mutter und Großvater gehalten wird) mit Machens ›The Great God Pan‹. Dort aber geht es um die Öffnung der Imagination für Pan, den Gott der ungezähmten Natur. Durch einen Akt imaginativer Induktion – den bei Machen eine Gehirnoperation ermöglicht – wird eine junge Frau schwanger und gebiert eine Tochter, die als Vehikel dieser Kräfte Pans Tod und Verderben über ihre Umwelt bringt. Um eine parthenogenetische Schwangerschaft geht es auch in ›The White People‹ (was manche Leserinnen und Leser freilich nicht merken, so dezent ist es angedeutet), und natürlich im Christentum. Es ist sogar die These vertreten worden, ›The Dunwich Horror‹ sei sozusagen eine Travestie des Evangeliums, wofür es in der Tat einige Indizien gibt. Wilburs Zwillingsbruder stirbt auf Sentinel Hill mit der Anrufung seines übernatürlichen Vaters, wie Jesus auf Golgatha (nach Markus 15, 34; Matthäus 27, 46 und besonders Lukas 23, 46). Anders als Jesus (Johannes 19, 30) hat der Namenlose auf Sentinel Hill aber nicht »vollbracht«, was er sich vorgenommen hatte. Diese Deutung als leise blasphemische Travestie wird von Lovecraft aber an keiner der zahlreichen Briefpassagen über diesen Text angedeutet, und scheint sich auch keinem damaligen Leser aufgedrängt zu haben, sodass sie sich vielleicht nur einem gescheiten Interpreteneinfall verdankt. Unmöglich ist sie nicht; Lovecraft war ein überzeugter Gegner des Christentums. Die Bezüge auf Arthur Machen dagegen sind explizit, vom Autor intendiert und dürfen nicht vernachlässigt werden. Die meisten (»Aklo«, »the Voorish sign«) stammen aus dem Text ›The White People‹, den Lovecraft für die zweitbeste unheimliche Erzählung hielt, die überhaupt jemals geschrieben worden sei (nach Algernon Blackwoods ›The Willows‹).
Fiktiv ist die ungeheuer provokative Passage aus dem Necronomicon (die längste, die Lovecraft jemals ersonnen hat). Ein reales Buch dagegen aber ist die Daemonolatreia des Remigius. Remigius ist Nicolas Rémy (1530–1612), ein berühmter Hexenjäger und Autor über Magie, dessen Daemonolatreiae libri tres zuerst 1595 in Lyon erschienen und besonders in ihrer deutschen Übersetzung (Frankfurt 1596/97) weiteste Verbreitung fanden. Die englische Übersetzung von E. A. Ashwin, herausgegeben und eingeleitet von Montague Summers, erschien jedoch erst 1930 in London, nach der Abfassung von ›The Dunwich Horror‹. Ich weiß nicht, ob Lovecraft das Buch je selbst (in einer älteren Ausgabe) in Händen hielt.
Der Spruch, mit dem die drei Vertreter der Miskatonic University schließlich das Böse bannen, ist ein biblischer Text. »Negotium perambulans in tenebris« (»Das Unheil, das im Dunklen umherschleicht«) ist ein Zitat aus dem 90. Psalm (in der Fassung der Vulgata, der lateinischen Übersetzung der Bibel). Dieser Psalm stellt den meistzitierten Abwehrzauber in der abendländischen magischen Tradition
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