Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
in den Gewölben verstanden hatte!
Und so stimmte Marinus Bicknell Willett mit klarer Stimme den zweiten Teil des Formelpaares an, dessen erster den Verfasser der Minuskelbotschaft hatte auferstehen lassen – die kryptische Beschwörung, die unter dem Zeichen des Drachenschwanzes, des absteigenden Knotens, stand:
»OGTHROD AI’F
GEB’L – EE’H
Yog-Sothoth
’NGAH’NG AI’Y
ZHRO!«
Schon beim allerersten Wort aus Willetts Mund hielt der Patient abrupt mit seiner zuvor begonnenen Formel inne. Unfähig zu sprechen ruderte das Ungeheuer wild mit den Armen umher, bis auch diese erstarrten. Als der grausige Name des Yog-Sothoth erklang, setzte die abscheuliche Veränderung ein. Es handelte sich nicht einfach um eine Auflösung, sondern um eine Umformung oder Rekapitulation, und Willett schloss die Augen, damit er nicht die Besinnung verlor, ehe er die Beschwörung ganz ausgesprochen hatte.
Doch er wurde nicht ohnmächtig, und der Mann, der unheilige Jahrhunderte alt war und verbotene Geheimnisse kannte, sollte auf der Welt kein Unheil mehr verursachen. Der Wahnsinn aus der Zeit war versiegt, und der Fall Charles Dexter Ward beendet.
Als Dr. Willett die Augen wieder öffnete, ehe er das Zimmer wankend verließ, sah er, dass das, was er sich eingeprägt hatte, seine Wirkung keineswegs verfehlt hatte. Es hatte, wie er vorhergesagt hatte, keiner Säure bedurft. Denn genauso wie sein verfluchtes Porträt ein Jahr zuvor, lag nun auch Joseph Curwen als dünne Schicht eines feinen, bläulich grauen Staubes auf dem Boden verstreut.
Vorwort zu »as Grauen von Dunwich« (The Dunwich Horror)
Das »echte« Dunwich ist eine alte und von vielen Mysterien umgebene Stadt an der Küste Ostenglands, in der Grafschaft Suffolk. Dass Lovecraft gerade ihren Namen für eine seiner bemerkenswertesten topografischen Schöpfungen in Neuengland gewählt hat, ist schwerlich Zufall. Dunwich ist die exemplarische Stadt »am Abgrund« schlechthin, weil sie im Laufe der Jahrhunderte immer mehr vom Meer verschlungen wurde und heute große Teile unter Wasser liegen oder nur noch als verfallene Ruinen direkt an der Küste sichtbar sind. AD 630 wurde das Städtchen zum Bischofssitz (Beda nennt es »Donmoc«), den dann 866 die Dänen verwüsteten. Im Domesday Book von 1086 heißt der Ort Duneuuic; der Name setzt sich aus einer keltischen Vorsilbe zusammen, die »tiefes Wasser« bedeutet (nicht verwandt mit den meisten neuenglischen Namen, die auf Dun- beginnen), sowie einer Nachsilbe, die auf altenglisch »wic« »Hafen, Handelsplatz am Wasser« zurückgeht.
Montague Rhodes James, der unbestrittene Meister der britischen Gespenstergeschichte, den Lovecraft sehr gerne gelesen hat, schrieb 1930 in seiner regionalgeschichtlichen Studie ›Suffolk and Norfolk‹ über das britische Dunwich: »… dann, an der Küste, kommen wir nach Dunwich. Wie viel von dieser einst wohlbevölkerten Stadt mit ihren 52 Kirchen in diesem Augenblick noch vorhanden ist, weiß ich nicht. Aber die Ruine der All Saint‘s Church, die beiden Pforten des franziskanischen Konventes, und die normannische Apsis der St. James Hospital Chapel waren vor einiger Zeit noch zu sehen. Zu ihrer Zeit war die Stadt Bischofssitz und Hafen; im frühen 14. Jahrhundert wurde der Hafen zerstört und 400 Häuser versanken. Um 1550 waren vier der Kirchen zerstört, und der Untergang war nicht mehr aufzuhalten; ein gewaltiger Sturm im Jahr 1740 hat weitere grässliche Verwüstungen angerichtet.« Soweit James. Auch Tempelritter, Franziskaner (Grey Friars), Dominikaner (Black Friars) und ein paar Benediktiner gab es in Dunwich. In der Gilde der Fantasten erwähnt auch Arthur Machen den Ort gelegentlich, so in ›The Terror‹ (1916 geschrieben, 1917 veröffentlicht).
Lovecraft muss von dieser langsam im Meer versinkenden Stadt fasziniert gewesen sein. Da die Puritaner ihre Gründungen meist nach Namen aus der Bibel oder eben nach Städten ihrer alten britischen Heimat benannten, wählt Lovecraft für seine »dekadente« Stadt schlechthin geschickt einen Namen, der in jedem, der britischer Geschichte kundig ist, die Assoziation von Gefahr, Verfall, langsamem Untergang und der Nähe der großen Tiefe hervorrufen muss.
Allerdings liegt Lovecrafts Dunwich in den Wäldern von Massachusetts, nicht mehr am Meer. Die Schilderung des Weges nach Dunwich mit seiner aus dem Lot geratenen Natur gehört zu den großen evokativen Passagen der unheimlichen Literatur. Sie verdient, auch völlig unabhängig
Weitere Kostenlose Bücher