Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
dar. Der Autor klassischer Gespenstergeschichten Edward Frederic Benson (1867–1940) hat unter dem Titel ›Negotium Perambulans‹ auch eine Geschichte über einen schneckenähnlichen Naturgeist geschrieben, die 1923 in seinem Band Visible and Invisible erschien. Das war wohl Lovecrafts unmittelbare Inspiration, den biblischen Psalm hier als Abwehrzauber zu verwenden; er hat Bensons unheimliche Geschichten und gerade ›Negotium Perambulans‹ hoch geschätzt.
Wieder sind das topografische Lokalkolorit, die Einbindung genuiner Folklore von beträchtlicher Faszination. Die Steinkreise auf »Sentinel Hill« – die weder von weißen Siedlern noch von Indianern stammen können – erinnern an Mystery Hill in Salem, New Hampshire, und ähnliche Megalithbauten. Lovecraft hat sich immer für die wenigen rätselhaften Steinmonumente interessiert, welche von manchen als Indizien für eine Anwesenheit weißer Siedler vor den Puritanern des 17. Jahrhunderts (z. B. Wikingern) gewertet wurden. Ein schönes Stück Lokalkolorit sind die Ziegenmelker (whippoorwills), die als Psychopompe auf die Seelen der Toten lauern (aber in panischem Schrecken vor dem fliehen, was aus dem Körper Wilbur Whateleys hervortritt) und genuine neuenglische Folklore darstellen. Lovecraft lernte diese Sage kennen, als er Juli 1928 für acht Tage Gast bei der Schriftstellerin Edith Dowe Miniter (1867–1934) in ihrem Haus in Wilbraham, Massachusetts zu Gast war. Die Region um Dunwich ist nach dem Vorbild derjenigen um Wilbraham gestaltet, wie Lovecraft in diversen Briefen explizit sagt. Wie immer, mischt Lovecraft aber auch Züge anderer Landschaften ein: der Name Sentinel Hill z. B. ist sicher von Sentinel Elm Farm bei Athol, Mass. beeinflusst. Dort lebte Lovecrafts Freund W. Paul Cook (1881–1948), der 1941 den inhaltsreichsten und authentischsten Nachruf auf Lovecraft schrieb, den wir aus der Feder eines Menschen besitzen, der den Autor (schon seit 1917) persönlich kannte und ihn öfter besucht hat. Bei seinem Aufenthalt in Wilbraham hat Lovecraft die düstere Faszination der entlegenen, hinterwäldlerischen Dörfer Neuenglands in nie gekannter Weise gespürt. Soweit es ihm möglich war, hat er die Wälder und Gehöfte dieses Landstriches aufgesucht und Gespräche mit Einheimischen geführt. Lovecraft hat Edith Miniter später nach ihrem Tod einen anrührenden Nachruf gewidmet, in dem er seine Zeit in ihrem Haus eingehend beschreibt. Seine Versuche, den lokalen Dialekt in ›The Dunwich Horror‹ wiederzugeben, wirken in einer Übersetzung ein wenig unbeholfen, sind aber aus dem echten Bemühen geboren, das Flair der Landschaft und ihrer Bewohner einzufangen. Die Titel kryptografischer Bücher, deren Hilfe Dr. Armitage bemüht, sind (wie ich bedaure sagen zu müssen) nur aus Lovecrafts geerbter Encyclopaedia Britannica abgeschrieben. (Die Faszination in Sachen Kryptografie teilt Lovecraft bekanntlich mit Poe, der aber literarisch mehr aus dem Motiv macht). Was es mit dem Pulver des Ibn Ghazi auf sich hat, entzieht sich meiner Kenntnis.
Von anderen Geschichten Lovecrafts unterscheidet sich diese nicht zuletzt dadurch, dass sie sich eines relativ klaren und eindeutigen Gut-gegen-Böse-Szenarios bedient. Dadurch ist ›The Dunwich Horror‹ immer eine der beliebteren Geschichten Lovecrafts gewesen, während andererseits S. T. Joshi sie eben deshalb scharf kritisiert hat. Die Frage, ob ›The Dunwich Horror‹ ästhetisch wertloser ist als etwa ›The Colour Out of Space‹ erlaube ich mir auf sich beruhen zu lassen. Beide stellen verschiedene Versuche Lovecrafts dar, den Einbruch von etwas völlig Fremdem in unsere Welt in Bilder und erzählbare Geschichten zu fassen.
Wer oder was genau ist Yog-Sothoth? Das ist eine schwierige Frage. Als Numen ist er eine Art Tor oder Tür zwischen den Dimensionen, weniger ein Psychopomp als eine Art »Hüter der Schwelle«, wie ihn Edward Bulwer-Lytton in die fantastische Literatur eingeführt hat. Die Vertreter der Tradition, der stillen Gelehrsamkeit, der neuenglischen besseren Gesellschaft können das Böse noch einmal bannen. Man kontrastiere die völlige Hilflosigkeit der »dekadenten« Dörfler. Lovecrafts Klassenbewusstsein ist mit Händen zu greifen. Wer sich gerne in tiefenpsychologischen Experimenten versuchen möchte, mag sich erinnern, dass die Konstellation »mysteriöser, starker Großvater«, »blasse, anämische, psychisch labile Mutter«, »abwesender, rätselhafter Vater« und schließlich
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