Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)

überseeischen Kolonien entfalten, und das gilt nicht nur für religiöse Traditionen. 1769 hat Providence auch einmal eine bescheidene Rolle in der Wissenschaftsgeschichte gespielt, als Dr. Benjamin West mit der Hilfe von Gouverneur Stephen Hopkins, Moses Brown, Dr. Jabez Bowen, Joseph Nash und John Burrough den Venusdurchgang beobachtete und wissenschaftlich dokumentierte. Lovecraft erwähnt fast alle diese Personen und widmet Dr. Wests Abhandlung über das astronomische Ereignis eine ausführliche Bemerkung in unserem Text. Erschienen im ersten Band der Transactions of the American Philosophical Society fand sie auch internationale Beachtung.
    Kaum interpretatorische Bemühung hat bisher die strikte räumliche und zeitliche Gegenwart der Rahmenhandlung von ›The Case of Charles Dexter Ward‹ gefunden. Charles’ Geschick spielt sich fiktional in genau jenen Tagen ab, an denen Lovecraft die Novelle schreibt, in Häusern, die sich nur wenige Schritte von seinem Schreibtisch entfernt befinden. Das ist durchaus ungewöhnlich. Lovecrafts »Gegenwart« wird damit in einem Ausmaß fantastisch verfremdet, wie wir es sonst nur aus dem Tagtraum kennen, kaum aus der Literatur. Auch darin spiegelt sich der tief »persönliche« Grundzug der Erzählung.
    Alles in allem ist ›The Case of Charles Dexter Ward‹ (das Originalmanuskript ist erhalten und liegt in der John Hay-Library) ein Text von beträchtlicher Vielschichtigkeit, der wiederholte Lektüre lohnt und auch künftig noch Entdeckungen ermöglichen wird. 1963 hat Roger Corman wesentliche Motive und Stichworte der Novelle in seinem Film The Haunted Palace (mit Vincent Price, Debra Paget und Lon Chaney Jr.) aufgenommen, der im cineastischen Stil eine Fortsetzung seiner Edgar Allan Poe-Adaptionen ist (der Titel stammt aus einem Poe-Gedicht) und auch sonst mit Lovecraft nur wenig zu tun hat, obwohl er davon abgesehen keineswegs verächtlich ist.

Der Fall Charles Dexter Ward
    Die essenziellen Salze von Tieren können so präpariert und konserviert werden, dass ein kluger Mann durchaus die gesamte Arche Noah in seinem privaten Studierzimmer aufbewahren und den vollständigen Körper eines Tieres aus dessen Asche nach Begehr auferstehen lassen kann; und mittels dieser Methode vermag ein Gelehrter, ohne jede kriminelle Nekromantie, aus essenziellen Salzen des menschlichen Staubes, zu dem der Körper zuvor zerfiel, jeden toten Ahnen zu erwecken.
    Borellus
    Erstes Kapitel: Ein Befund und ein Prolog
    1
    Kürzlich verschwand aus einer Privatklinik für Geisteskranke in der Nähe von Providence, Rhode Island, ein höchst eigenartiger Mann. Er trug den Namen Charles Dexter Ward und war der Obhut der Ärzte von seinem kummervollen Vater zögernd anvertraut worden, nachdem der mit angesehen hatte, wie der Wahn seines Sohnes sich von bloßer Verschrobenheit zur finsteren Manie steigerte, die sowohl zu vorstellbaren mörderischen Absichten als auch zu einer tiefen, sonderbaren Veränderung seines Gehirns geführt hatte. Die Ärzte selbst bekennen, dass dieser Fall sie ziemlich erstaunte, da er sowohl körperliche als auch seelische Anomalien aufwies.
    Zuerst einmal wirkte der Patient seltsamerweise viel älter als seine tatsächlichen 26 Jahre. Es stimmt, dass Störungen des Geistes zu raschem Altern führen können, doch das Gesicht dieses jungen Manns hatte unterschwellige Züge angenommen, die eigentlich nur sehr alte Menschen zeigen.
    Des Weiteren zeigten seine organischen Körperfunktionen eine eigenartige Veränderung, für die in der Medizin keine Parallelen bekannt sind. Atmung und Herzschlag erfolgten sehr unregelmäßig. Die Stimme hatte er fast verloren, sodass er sich nur flüsternd mitteilen konnte. Die Verdauung war reduziert und zog sich unglaublich lange hin. Auch die Reaktionen der Nerven auf die üblichen Reize waren völlig anders als alles, was die Wissenschaft je über gesunde oder krankhafte Menschen aufgezeichnet hat. Die Haut war greisenhaft kalt und trocken, und die Zellenstruktur des Gewebes schien extrem rau und spröde. Sogar ein großes olivenfarbenes Muttermal auf seiner rechten Hüfte war verschwunden, während sich auf seiner Brust ein eigenartiger, schwärzlicher Leberfleck gebildet hatte, von dem zuvor keine Spur zu sehen gewesen war. Grundsätzlich stimmen alle Ärzte darin überein, dass sich Wards Stoffwechsel in einem nie da gewesenen Maße retardiert hatte.
    Auch in psychologischer Hinsicht war der Fall Charles Ward einzigartig. Sein Wahnsinn