Chronik des Cthulhu-Mythos I (German Edition)
eigentlichen Kern des Wahns, sie spielten aber eine große Rolle in dessen äußerer Gestalt.
Die Wissenslücken, die den Nervenärzten aufgefallen waren, hatten alle mit aktuellen Begebenheiten zu tun und wurden, wie sich durch geschickte Befragung zeigte, unweigerlich wettgemacht von einem entsprechend übermäßigen, wenn auch nach außen hin verheimlichten Wissen um längst Vergangenes. Man hätte sich vorstellen können, der Patient sei durch eine obskure Art der Selbsthypnose in ein früheres Zeitalter transferiert worden.
Sonderbarerweise schien Ward inzwischen kein Interesse mehr an den Altertümern zu haben, die er doch so gut kannte. Er hatte allem Anschein nach durch die übermäßige Vertrautheit die Wertschätzung dafür verloren, und konzentrierte all seine Bemühungen nun offensichtlich auf die Bewältigung der ganz gewöhnlichen Dinge der modernen Welt, die so völlig aus seinem Bewusstsein gelöscht worden waren.
Dass es zu einer solch umfassenden Löschung gekommen war, versuchte er mit allen Mitteln zu verbergen, doch allen, die ihn beobachteten, war klar, dass seine gesamte Lektüre und seine Gespräche vom verzweifelten Wunsch getragen waren, sich mehr Wissen über sein eigenes Leben und den allgemeinen und kulturellen Hintergrund des 20. Jahrhunderts anzueignen, was man aufgrund seiner Geburt im Jahre 1902 und seiner Ausbildung an den Schulen unserer Zeit als selbstverständlich vorausgesetzt hätte. Nun fragen die Nervenärzte sich, wie es dem entflohenen Patienten angesichts seines stark beeinträchtigten Wissensstandes gelingen mag, mit der komplizierten Welt von heute zurechtzukommen; die meisten glauben, dass er sich »herablässt« zu einer einfachen und anspruchslosen Tätigkeit und sich so lange verbirgt, bis er seine Kenntnis der zeitgemäßen Dinge auf einen normalen Stand gebracht hat.
Wann Wards Wahnsinn begonnen hat, ist unter den Nervenärzten eine ungeklärte Frage. Dr. Lyman, eine bedeutende Autorität aus Boston, datiert ihn auf 1919 oder 1920, das letzte Jahr des Jungen auf der Moses Brown School. Damals gab er plötzlich das Studium der Vergangenheit auf, um sich dem Studium des Okkulten zu widmen. Er weigerte sich, sich weiterhin aufs College vorzubereiten, da er persönliche Nachforschungen von erheblich größerer Wichtigkeit anzustellen habe. Dies zeigte sich augenscheinlich an Wards veränderten Gewohnheiten in diesem Zeitraum, vor allem an seinen fortwährenden Recherchen in städtischen Chroniken und seiner Suche auf alten Friedhöfen nach einem bestimmten, 1771 angelegten Grab – der Grabstätte eines Vorfahren namens Joseph Curwen. Ward behauptete, er habe einige Dokumente von Curwen hinter der Wandvertäfelung eines sehr alten Hauses in Olney Court auf dem Stampers Hill gefunden, von dem man wusste, dass er es einst bewohnt hatte. Kurz gefasst: Es ist nicht zu leugnen, dass Ward im Winter 1919–20 eine große Veränderung durchlebte. Er gab überraschend seine allgemeinen Altertumsforschungen auf und betrieb zweifelhafte okkulte Nachforschungen, die er nur für die merkwürdig beharrliche Suche nach dem Grab seines Vorfahren unterbrach.
Diese Theorie wurde allerdings von Dr. Willett stark in Zweifel gezogen, der sein Urteil auf seine enge und lang währende Bekanntschaft zu dem Patienten gründete und auf einige entsetzliche Untersuchungen und Entdeckungen, die er letztendlich gemacht hatte. Diese haben ihn gezeichnet; seine Stimme bebt, sobald er darüber spricht, und seine Hand zittert, wenn er darüber zu schreiben versucht. Willett stimmt zu, dass die Veränderungen um 1919–20 herum sicherlich den Beginn eines fortschreitenden Verfalls markieren, der seinen Höhepunkt in der furchtbaren, traurigen und unheimlichen Entfremdung im Jahre 1928 fand. Er glaubt aber aus persönlicher Beobachtung, dass hier feinere Unterschiede gemacht werden müssen. Er gibt bereitwillig zu, dass der Junge stets unter einem unausgeglichenen Temperament litt und auf die Umwelt ungewöhnlich empfänglich reagierte, doch er will nicht zustimmen, dass Wards rasche Veränderung den eigentlichen Übergang von geistiger Gesundheit zum Wahnsinn markiert. Stattdessen betont er Wards eigene Aussage, er habe etwas entdeckt oder wiederentdeckt, dessen Auswirkung auf das menschliche Denken wohl sehr fantastisch und tief greifend sein könne.
Der wahre Wahnsinn, davon ist Willett überzeugt, kam später, nachdem Ward das Porträt von Curwen und dessen alte Unterlagen entdeckt hatte und
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