Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)
die Befürchtung, ich sei entdeckt worden. Als ich mich umblickte, verlangsamte ich unwillkürlich meinen Schritt, um eine Sekunde lang den Anblick des Meeres in mich aufzunehmen, das am Ende der Straße im brennenden Mondlicht herrlich aussah. Weit draußen jenseits der Wellenbrecher befand sich der trübe, dunkle Umriss des Teufelsriffs, bei dessen Anblick ich unfreiwillig an all die scheußlichen Legenden dachte, von denen ich in den letzten vierunddreißig Stunden gehört hatte – Legenden, die diesen zerklüfteten Felsen als eine wirkliche Pforte zu Reichen unermesslichen Grauens und unvorstellbarer Abnormität darstellten.
Dann sah ich plötzlich die blinkenden Lichtblitze auf dem fernen Riff. Ihre Bedeutung war mir unmissverständlich klar, und sie lösten in meinem Geist ein blindes Entsetzen fern aller vernünftigen Erwägungen aus. Meine Muskeln spannten sich zur panischen Flucht an, die nur von einer gewissen unterbewussten Vorsicht und einer halb hypnotischen Faszination aufgehalten wurde. Um die Sache zu verschlimmern, blitzte nun aus dem hohen Kuppeldach des Gilman House, das hinter mir im Nordosten emporragte, eine Reihe ähnlicher, in verschiedenen Abständen auftretender Lichtstrahlen auf, bei denen es sich um nichts anderes als ein Antwortsignal handeln musste.
Als ich meine Muskeln wieder unter Kontrolle gebracht und von Neuem erkannt hatte, wie deutlich sichtbar ich sein musste, setzte ich meinen gespielt watschelnden Gang rascher fort; dabei hielt ich den Blick auf jenes höllische und bedrohliche Riff geheftet, solange die Öffnung der South Street mir den Blick zur See gestattete. Was der ganze Vorgang bedeuten sollte, konnte ich mir nicht ausmalen, es sei denn, es handelte sich um einen merkwürdigen Ritus, der mit dem Teufelsriff zu tun hatte, oder aber ein Schiff war vor jenem finsteren Fels gelandet. Ich bog nun links von der verfallenen Grünanlage ab und blickte dabei noch immer auf das Meer, das im sommerlichen Mondlicht gespenstisch leuchtete, und starrte auf das rätselhafte Flackern jener namenlosen, unerklärlichen Signalfeuer.
Da geschah es, dass die entsetzlichste Erkenntnis von allen sich mir aufdrängte – die Erkenntnis, welche die letzten Reste meiner Selbstbeherrschung zerstörte und mich dazu brachte, an den gähnenden schwarzen Türöffnungen und gleich Fischaugen starrenden Fenstern jener verlassenen Albtraumstraße panisch vorüberzurennen. Denn bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass das mondbeschienene Gewässer zwischen dem Riff und der Küste alles andere als leer war. Es wurde von einer wimmelnden Schar Gestalten aufgewühlt, die in Richtung der Stadt schwammen; und trotz der großen Entfernung und des kurzen Augenblicks der Wahrnehmung konnte ich erkennen, dass die auf- und abtauchenden Köpfe und um sich schlagenden Arme in einer Weise fremdartig und abnorm waren, die kaum in Worte gefasst oder bewusst formuliert werden kann.
Mein panischer Lauf endete, noch ehe ich einen Häuserblock zurückgelegt hatte, denn zu meiner Linken hörte ich das Gezeter und Geschrei einer organisierten Verfolgungsjagd. Ich vernahm Schritte und kehlige Laute und ein rasselnder Motor knatterte die Federal Street entlang nach Süden. Binnen einer Sekunde waren all meine Pläne umgeworfen – denn wenn die südliche Hauptstraße vor mir blockiert war, musste ich mir auf jeden Fall einen anderen Ausweg aus Innsmouth suchen. Ich hielt inne und zog mich in eine leere Türöffnung zurück, wo ich darüber nachdachte, welches Glück ich gehabt hatte, den mondhellen offenen Platz verlassen zu haben, ehe die Verfolger die Parallelstraße entlanggekommen waren.
Eine zweite Überlegung war weniger tröstlich. Da die Verfolger eine andere Straße entlangliefen, war klar, dass diese Gruppe mir nicht direkt folgte. Sie hatten mich nicht gesehen, sondern befolgten einfach einen allgemeinen Plan, mir die Fluchtwege abzuschneiden. Dies legte jedoch den Gedanken nahe, dass alle aus Innsmouth herausführenden Straßen gleichermaßen bewacht wurden, denn die Einwohner konnten nicht wissen, welche Route ich einzuschlagen gedachte. Wenn dem so war, würde meine Flucht übers Land abseits der Straßen verlaufen müssen; doch wie sollte ich das angesichts der sumpfigen und von Bächen durchzogenen Natur des Umlandes bewerkstelligen? Einen Moment lang schwirrte mir der Kopf – sowohl wegen der schieren Aussichtslosigkeit meiner Lage als auch wegen der raschen Zunahme des allgegenwärtigen
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