Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)
Überleben während der zweiten Etappe hinge davon ab, welcher fernliegende Teil des dreidimensionalen Raumes für die Rückkehr ausgewählt werde. Die Bewohner eines Planeten könnten vielleicht auch auf bestimmten anderen Welten leben – sogar auf solchen, die anderen Galaxien oder ähnlichen Dimensionsräumen anderer Raum-Zeit-Kontinuen angehörten –, obwohl es natürlich eine gewaltige Anzahl von unbewohnbaren, wenngleich mathematisch angrenzenden Himmelskörpern oder Raumzonen geben müsse.
Auch sei es möglich, dass die Bewohner einer gegebenen Dimension den Übergang in viele unbekannte und unbegreifliche Bereiche zusätzlicher oder unendlich vervielfältigter Dimensionen – gleich ob innerhalb oder außerhalb des gegebenen Raum-Zeit-Kontinuums – unbeschadet überstehen könnten und dass das Gegenteil davon ebenfalls zutreffe. Dies sei bloße Spekulation, doch könne man mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass die Art der Mutation, die der Übergang von einer Dimensionsebene zur nächsthöheren mit sich bringe, die biologische Integrität, wie wir sie verstehen, nicht in Mitleidenschaft ziehe. Gilman brachte nicht klar zum Ausdruck, welche Gründe er für diese letzte Mutmaßung hatte, doch wurde seine Unbestimmtheit in diesem Punkt durch seine Klarheit bei anderen komplexen Themen mehr als aufgewogen. Professor Upham war besonders beeindruckt von seinem Nachweis der Verwandtschaft zwischen höherer Mathematik und gewissen Aspekten magischer Lehren, die aus uralten Quellen – ob nun menschlicher Herkunft oder nicht – durch die Zeiten weitergereicht worden seien und deren Wissen vom Kosmos und seinen Gesetzen umfassender sei als das heutige.
Gegen Anfang April machte Gilman sich große Sorgen, weil sein langwieriges Fieber nach wie vor nicht abklingen wollte. Auch das, was einige seiner Hausgenossen über sein Schlafwandeln sagten, beunruhigte ihn. Anscheinend verließ er häufig das Bett; dem Mann, der das Zimmer unter ihm bewohnte, war aufgefallen, dass die Dielen zu gewissen Stunden knarrten. Dieser Bursche behauptete auch, nachts oftmals Schritte von Füßen zu hören, die beschuht waren, aber Gilman war sich sicher, dass hier ein Irrtum vorliegen müsse, da seine Schuhe wie auch die anderen Kleidungsstücke morgens immer an dem Platz lagen, wo er sie abends zuvor abgelegt hatte. In diesem morbiden alten Haus konnte man leicht allen möglichen Sinnestäuschungen erliegen – war Gilman denn nicht selbst davon überzeugt, dass jetzt sogar am helllichten Tag außer dem Lärmen der Ratten auch andere Geräusche aus der schwarzen Leere jenseits der schrägen Mauer und der schiefen Decke zu hören waren? Seine krankhaft empfindlichen Ohren fingen an, auf leise Schritte von dem seit undenklichen Zeiten verschlossenen Dachboden über ihm zu horchen, und zuweilen schienen diese eingebildeten Schritte überaus real.
Er wusste allerdings, dass er tatsächlich zum Schlafwandler geworden war; zweimal hatte man sein Zimmer in der Nacht leer vorgefunden, obwohl alle seine Kleider an ihrem Platz lagen. Das hatte ihm Frank Elwood versichert, ein Kommilitone von ihm, der sich seiner Armut wegen gezwungen sah, in diesem schäbigen und unbeliebten Haus zu wohnen. Elwood war in den frühen Morgenstunden noch seinen Studien nachgegangen und war heraufgekommen, weil er bei einer Differenzialgleichung Hilfe benötigte, hatte Gilman aber nicht vorgefunden. Es war recht dreist von ihm gewesen, die unverriegelte Tür einfach zu öffnen, als er auf sein Klopfen hin keine Antwort erhielt, doch er hatte wirklich dringend Hilfe benötigt und gehofft, Gilman würde es ihm nicht übel nehmen, wenn er ihn weckte. Aber beide Male hatte sich Gilman nicht im Zimmer befunden, und als er von dieser Sache erfuhr, fragte er sich, wo er barfuß und im Nachthemd umhergewandert sein mochte. Er beschloss, der Angelegenheit nachzugehen, sollten sich die Berichte über sein Schlafwandeln wiederholen, und dachte daran, im Korridor Mehl auszustreuen, um zu sehen, wohin seine Schritte führten. Die Tür stellte den einzig denkbaren Ausgang dar, denn die Wand unterhalb des schmalen Fensters war für den Abstieg ungeeignet.
Im weiteren Verlauf des Aprils wurden Gilmans vom Fieber geschärfte Ohren durch die winselnden Gebete eines abergläubischen Webers namens Joe Mazurewicz gestört, der ein Zimmer im Erdgeschoss bewohnte. Mazurewicz hatte lange, umständliche Geschichten über den Geist der alten Keziah und das pelzige schnüffelnde
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