Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)
Wesen mit den spitzen Reißzähnen erzählt und behauptet, von ihnen zuweilen so übel bedrängt zu werden, dass allein sein silbernes Kruzifix – das Pater Iwanicki von der Kirche St. Stanislaus ihm zu diesem Zweck gegeben hatte – ihm Erleichterung böte. Nun bete er, weil der Hexensabbat näher rücke. Am Vorabend des ersten Mai sei die Walpurgisnacht, wenn die finstersten Schrecken der Hölle die Erde heimsuchten und alle Sklaven Satans sich zu unbeschreiblichen Riten und Untaten zusammenfänden. In Arkham sei das immer eine schlechte Zeit, auch wenn die feinen Herrschaften in der Miskatonic Avenue, der High Street und der Saltonstall Street vorgäben, nichts von diesen Dingen zu wissen. Es würden sich schlimme Dinge ereignen, und später würden vermutlich ein oder zwei Kinder vermisst werden. Er, Joe, wisse Bescheid über diese Sachen, denn seine Großmutter habe es in der alten Heimat von ihrer Großmutter gehört. Zu dieser Zeit sei es klug zu beten und den Rosenkranz in der Hand zu halten. Seit drei Monaten schon seien Keziah und Brown Jenkin seinem Zimmer nicht mehr nahegekommen, auch nicht dem von Paul Choynski oder sonst wem – und es sei gewiss kein gutes Zeichen, wenn sie sich derart zurückhielten. Dann heckten sie bestimmt etwas aus.
Gilman suchte am sechzehnten des Monats die Praxis seines Hausarztes auf und war überrascht, als er erfuhr, dass seine Temperatur nicht so hoch war, wie er befürchtet hatte. Der Arzt befragte ihn streng und gab ihm den Rat, einen Nervenspezialisten zu konsultieren. Im Nachhinein war Gilman froh, nicht den noch neugierigeren Universitätsarzt hinzugezogen zu haben. Der alte Waldron, der schon zuvor seine Aktivitäten eingeschränkt hatte, hätte ihm mit Sicherheit strengste Ruhe auferlegt – und das war jetzt gänzlich unmöglich, wo er der großartigen Lösung seiner Berechnungen so nahe war. Er stand an der Grenze zwischen dem bekannten Universum und der vierten Dimension, und wer konnte schon sagen, wie viel weiter er noch vorstoßen könnte?
Doch noch während er diese Gedanken abwog, fragte er sich, woher er seine seltsame Gewissheit nahm. Kam dieses Gefühl einer drohenden Gefahr aus den Formeln, mit denen er Tag für Tag seine Hefte füllte? Die sachten, verstohlenen, eingebildeten Schritte in der verschlossenen Dachkammer raubten ihm den letzten Nerv. Darüber hinaus hatte er das immer stärker werdende Gefühl, dass jemand ihn fortwährend zu etwas Schrecklichem überreden wolle, das er einfach nicht tun konnte. Und was war mit dem Schlafwandeln? Wohin ging er manchmal in der Nacht? Und woher kam diese schwache Andeutung von Tönen, die zuweilen selbst am helllichten Tag, wenn er völlig wach war, durch das Wirrwarr der gewöhnlichen Laute an sein Ohr drangen? Der Rhythmus dieser Töne entsprach nichts von dieser Welt, außer vielleicht einigen unbeschreiblichen Gesängen bei Hexensabbaten, und manchmal hatte er Angst, dass sie gewissen Eigenheiten des undeutlichen Geschreis oder Gebrülls in den völlig fremdartigen Abgründen seiner Albträume gleichen könnten.
Seine Träume hatten mittlerweile grässliche Ausmaße angenommen. In der einleitenden, leichteren Traumphase war die böse alte Frau nun ganz deutlich erkennbar, und Gilman wurde klar, dass es die Alte war, die ihn im verfallenen Hafenviertel erschreckt hatte. Der krumme Rücken, die lange Nase und das verschrumpelte Kinn waren unverkennbar; auch an ihre unförmigen braunen Gewänder konnte er sich erinnern. Ihr Gesichtsausdruck kündete von scheußlicher Boshaftigkeit und Schadenfreude, und als er erwachte, erinnerte er sich an eine krächzende Stimme, die auf ihn einredete und im drohte. Er müsse den schwarzen Mann treffen und sie alle zum Throne Azathoths inmitten des endlosen Chaos begleiten – das hatte sie ihm gesagt. Er müsse im Buch des Azathoth mit seinem Blut unterschreiben und einen neuen, geheimen Namen annehmen, weil er mit seinen Forschungen schon so weit vorgedrungen sei. Was ihn davon abhielt, sie und Brown Jenkin und das andere Wesen zum Thron des Chaos zu begleiten, wo die dünnen Flöten irre spielten, war die Tatsache, dass er den Namen »Azathoth« im Necronomicon gelesen hatte und wusste, dass dieser für eine urzeitliche böse Macht stand, die zu schrecklich war, um sie zu beschreiben.
Die alte Frau tauchte stets aus heiterem Himmel auf, und zwar in der Nähe der Ecke, wo sich die abschüssige Decke und die schräge Wand trafen. Sie schien an einer Stelle Gestalt
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