Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)

Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)

Titel: Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. P. Lovecraft
Vom Netzwerk:
andere Person versuchte, die Herrschaft über mein Denken an sich zu reißen.
    Der Zusammenbruch trug sich vormittags ungefähr um 10:20 Uhr zu, als ich gerade in Volkswirtschaftslehre VI eine Vorlesung über Wirtschaftsgeschichte und aktuelle ökonomische Tendenzen hielt. Es fing damit an, dass ich sonderbare Schemen vor mir sah und das Gefühl hatte, mich in einem grotesken Raum aufzuhalten, der nichts mit dem Hörsaal zu tun hatte.
    Meine Gedanken und mein Vortrag schweiften vom Thema ab, und die Studenten erkannten, dass mit mir etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Dann sackte ich bewusstlos auf meinem Stuhl zusammen und fiel in einen Dämmerschlaf, aus dem niemand mich wecken konnte. Es sollte fünf Jahre, vier Monate und dreizehn Tage dauern, ehe ich wieder mit meinen eigenen wachen Sinnen das Tageslicht unserer normalen Welt erblickte.
    Natürlich weiß ich das Folgende nur aus den Berichten anderer. Während der nächsten sechzehneinhalb Stunden zeigte ich keinerlei Anzeichen von Bewusstsein, obwohl man mich in mein Haus in der Crane Street 27 schaffte und der besten medizinischen Behandlung unterzog.
    Am 15. Mai um drei Uhr morgens schlug ich die Augen auf und fing zu sprechen an. Es dauerte jedoch nicht lange, da waren der Arzt und meine Familie von dem, was ich sagte und wie ich es sagte, völlig verängstigt. Es wurde deutlich, dass ich mich nicht daran erinnerte, wer ich war, obschon ich aus irgendeinem Grund darauf bedacht war, diese Wissenslücke zu verhehlen. Meine Augen blickten die mich umgebenden Personen sonderbar an, und die Bewegungen meiner Gesichtsmuskeln wirkten gänzlich unvertraut.
    Selbst meine Art zu reden schien unbeholfen und fremd. Ich benutzte meine Stimme auf plumpe, zögerliche Weise, und meine Diktion war von einer merkwürdig gestelzten Art, als hätte ich mir die englische Sprache mühselig aus Büchern angeeignet. Die Aussprache erschien barbarisch und ausländisch, und zu meinem Wortschatz gehörten sowohl völlig veraltete Ausdrücke als auch Wörter, die überhaupt nicht zu verstehen waren.
    Von den Letztgenannten stand vor allem eine Phrase dem jüngsten meiner Ärzte noch zwanzig Jahre danach mit erschreckender Lebhaftigkeit im Gedächtnis. Denn zu dieser späteren Zeit kam dieser Begriff in Umlauf – erst in England, dann in den Vereinigten Staaten –, und obwohl er überaus komplex und gänzlich neuartig war, entsprach er bis ins kleinste Detail den rätselhaften Worten des seltsamen Patienten im Arkham des Jahres 1908.
    Meine körperlichen Kräfte kehrten alsbald zu mir zurück, gleichwohl benötigte ich erstaunlich große Hilfe beim Wiedererlernen des Gebrauchs der Hände, Beine und meines ganzen Körpers. Deshalb und wegen anderer durch den Gedächtnisverlust ausgelöster Handicaps blieb ich für einige Zeit unter strenger ärztlicher Aufsicht.
    Als ich einsah, dass meine Versuche, die Gedächtnislücken zu verbergen, gescheitert waren, gestand ich sie offen ein und entwickelte eine regelrechte Gier nach Informationen jedweder Couleur. Bei meinen Ärzten erweckte das den Eindruck, als hätte ich das Interesse an meiner eigentlichen Persönlichkeit verloren, sobald ich die Tatsache der Amnesie für mich akzeptiert hatte.
    Ihnen fiel auf, dass mein Hauptaugenmerk darauf lag, gewisse Aspekte aus Geschichte, Wissenschaft, Kunst, Sprache und volkstümlicher Überlieferung zu meistern – manches davon überaus abstrus, anderes von nahezu kindlicher Einfachheit. All dies war mir merkwürdigerweise gänzlich entfallen.
    Zugleich wurde ihnen bewusst, dass ich stattdessen über unerklärliches Wissen aus vielen unbekannten Sparten verfügte – ein Wissen, das ich anscheinend lieber verbarg als offen zeigte. Mit beiläufiger Selbstverständlichkeit spielte ich etwa auf spezifische Ereignisse an, die in finsteren Zeitaltern weit außerhalb der akzeptierten Geschichtsschreibung lagen – und wenn ich die Verwunderung bemerkte, die solche Äußerungen auslösten, pflegte ich sie als Scherz abzutun. Und ich sprach in einer Art und Weise über die Zukunft, die zwei- oder dreimal wirkliche Angstzustände bei den Zuhörern auslöste.
    Diese unheimlichen Anfälle hörten bald auf, doch schrieben einige Beobachter dies eher einer willentlichen Vorsichtsmaßnahme meinerseits zu als einem Verschwinden des seltsamen Wissens, das ihnen zugrunde lag. Ich schien in der Tat unnatürlich erpicht darauf zu sein, die Sprache, Gepflogenheiten und Überzeugungen unseres Zeitalters in mich

Weitere Kostenlose Bücher