Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)
aufgespannt. Ähnlich wie in manchen religiösen und esoterischen Bewegungen (wie in der Theosophie, der Anthroposophie, auch in Scientology) gibt es intelligentes Leben auf der Erde seit Hunderten von Jahrmillionen, und das Sonnensystem wimmelt nur so von absonderlichen Bewohnern. Zugleich bevölkert Lovecraft allmählich die weißen Flecken der Landkarte (die arabische Wüste, den Südatlantik, die Antarktis, Westaustralien, aber auch die Berge in Vermont, die Wälder in Maine etc.) mit den Ruinen und Survivals vergangener Zivilisationen. Die Geschichte ist bei Lovecraft immer entschieden ein Thema von Faszination und radikaler Grenzüberschreitung.
Protagonist ist ein Nathaniel Wingate Peaslee: Wie meist bei Lovecraft besitzt er einen vollklingenden, dreiteiligen neuenglischen Namen. 1908–1913 sind die Jahre der seltsamen Amnesie Peaslees, seiner Besetzung durch das Alien aus der Vergangenheit. Dies waren aber auch Lovecrafts Jahre einer merkwürdigen Erstarrung, in der er sich nicht zu einer wirklichen Planung seines Lebens aufraffen konnte und offenbar die meiste Zeit zu Hause saß, las und Gedichte schrieb. 1908 hatte er seine Schule nach einem Nervenzusammenbruch ohne Abschluss abgebrochen, und obwohl er an Bildung und Fähigkeiten seine Altersgenossen weit in die Tasche steckte, hatte er nichts vorzuweisen, keinen Abschluss, nichts, womit man sich hätte bewerben können. Als er Mitte 20 war, erwachte er etappenweise aus der Lethargie dieser frühen Jahre, baute Sozialkontakte auf (sogar in einem beträchtlichen Ausmaß) und entdeckte seine Berufung als Schriftsteller. Es ist schwerlich Zufall, dass Lovecraft genau diese Jahre nachpubertärer Erstarrung für Peaslees »Besessenheit« durch ein Wesen aus der Vergangenheit wählt. Aber eine genaue Erklärung für diese Koinzidenz besitzen wir auch nicht.
Auch für ›The Shadow Out of Time‹ wissen wir recht genau, wie die Novelle allmählich aus einem Traumbild herauswuchs (diese traumhafte Qualität wird gegen Ende des Textes ausgepägter). Das Traumbild ist das eines Mannes, der ein prähistorisches Buch in seiner eigenen Handschrift in Händen hält. Schon 1930 hatte Lovecraft diese Idee in Briefen an Clark Ashton Smith diskutiert, wie ihn auch die diversen logischen und wissenschaftlichen Probleme einer potentiellen Zeitreise seit vielen Jahren beschäftigt hatten. Eine frühere Fassung der Novelle verlegte die Binnenhandlung (d. h. das Ziel der unfreiwilligen Zeitreise) in die Eiszeit, in die Welt der frühen Erzählung ›Polaris‹ (auch dies wissen wir aus Briefen). Aber das war offenbar nicht entwicklungsfähig. Anfang 1934 hatte Lovecraft seit über einem Jahr keine neue Erzählung mehr geschrieben, etwa ab Frühjahr 1934 begannen die literarischen Experimente, die dann in ›The Shadow Out of Time‹ mündeten. Die Niederschrift der Endfassung begann am 10. November 1934 und war am 22. Februar 1935 abgeschlossen; wie öfters vermerkte Lovecraft die Daten auf seinem Manuskript. Dies war mindestens die zweite oder dritte Fassung der Novelle; Lovecraft war lange nicht zufrieden und änderte mehrfach.
Die benutzen Quellen sind wiederum sehr reich. Anregungen für die Idee eines Persönlichkeitstausches haben wir bereits für ›The Thing on the Doorstep‹ erwähnt. Auf eine nichtliterarische Quelle hat S. T. Joshi hingewiesen: den Film Berkeley Square (USA 1933), den Lovecraft zuerst November 1933 auf Anregung von J. Vernon Shea im Kino sah, und später noch drei weitere Male. Hier geht es um einen Mann namens Peter Standish, der so sehr von seinem gleichnamigen Vorfahren aus dem 18. Jahrhundert fasziniert ist, dass er sozusagen in dessen Zeit zurückfällt und schließlich mit seinem Vorfahren verschmilzt. Lovecraft war ein begeisterter Kinogänger: Es ist sehr gut möglich, dass auch künftig noch cineastische Inspirationen in seinem Werk entdeckt werden, die bisher unbeachtet blieben, weil ein Großteil dieser Filme aus den 1920er und 1930er Jahren kaum mehr bekannt ist.
Schwer abzuschätzen ist der Einfluss der zeitgenössischen Science Fiction. Zu H. G. Wells ›The Time Machine‹ (1895, von Lovecraft 1925 gelesen) bestehen kaum Affinitäten, während Olaf Stapledons ›Last and First Men‹ (London 1930) Lovecraft nicht beeinflusst haben kann, weil er diesen Roman erst im August 1935 las. Wie immer hat die Frage nach möglichen Anregungen nur sehr relative Bedeutung: Lovecrafts eigene innovative Imagination war wie ein Schmelztiegel, der
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