Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)
aufzunehmen, so als sei ich ein neugieriger und gelehrsamer Reisender aus einem fernen, fremden Land.
Sobald es mir gestattet wurde, suchte ich die Universitätsbibliothek zu jeder möglichen Uhrzeit auf; bald darauf traf ich Vorkehrungen für gelegentliche Reisen und Sonderkurse an amerikanischen und europäischen Universitäten, was während der nächsten Jahre für viel Aufsehen sorgte.
Zu keinem Zeitpunkt litt ich Mangel an Kontakten zu Gelehrten, denn mein Fall war zu einiger Berühmtheit bei den Psychologen jener Zeit gelangt. Ich wurde als Musterbeispiel für eine Sekundärpersönlichkeit dargestellt – obschon ich die Vortragenden mit mancherlei bizarren Symptomen oder einem Anflug offenbar sorgsam verhehlten Hohns dann und wann zu verwirren schien.
Wirkliche Freundschaft wurde mir indes kaum zuteil. Etwas in meinem Aussehen und meiner Sprache schien bei jedem, der mir begegnete, unklare Ängste und Abneigungen auszulösen, als sei mein Wesen unendlich weit von allem Normalen und Gesunden entfernt. Diese Vorstellung eines finsteren verborgenen Grauens, das mit einer undefinierbaren Abgesondertheit zusammenhing, war seltsam weit verbreitet und hielt sich hartnäckig.
Meine eigene Familie bildete da keine Ausnahme. Vom ersten Moment meines merkwürdigen Erwachens an betrachtete meine Frau mich nur noch voller Grauen und Abscheu und schwor, etwas völlig Fremdes befinde sich im Leibe ihres Mannes. 1910 setzte sie die rechtmäßige Scheidung durch und verweigerte auch ein Wiedersehen nach meiner Rückkehr zur Normalität im Jahre 1913. Mein ältester Sohn und meine kleine Tochter teilten ihre Abneigung, und so habe ich auch sie beide nie mehr gesehen.
Einzig mein zweiter Sohn Wingate schien das Grauen und den Ekel, die mein Wandel ausgelöst hatte, überwinden zu können. Zwar spürte auch er, dass ich ein Fremder war, doch trotz seiner acht Jahre klammerte er sich an den Glauben, dass mein wahres Ich zurückkehren werde. Als dies dann auch geschah, suchte er mich auf, und das Gericht sprach mir das Sorgerecht für ihn zu. In den folgenden Jahren unterstützte er mich bei den Studien, zu denen ich mich getrieben fühlte, und mit seinen fünfunddreißig Jahren ist er heute Professor für Psychologie an der Miskatonic-Universität.
Aber ich bin keineswegs erstaunt über das Entsetzen, das ich auslöste – denn tatsächlich waren der Geist, die Stimme und der Gesichtsausdruck des Wesens, das am 15. Mai 1908 erwachte, nicht die von Nathaniel Wingate Peaslee.
Ich will gar nicht erst versuchen, viel über mein Leben in den Jahren 1908 bis 1913 zu berichten, da die Leser all die äußerlichen Geschehnisse aus den Archiven alter Zeitungen und Wissenschaftsjournale erfahren können – so wie ich selbst es größtenteils tun musste.
Man gab mir die Verfügung über mein Vermögen zurück, und ich brauchte es langsam und im Ganzen vernünftig auf: für Reisen und Studienaufenthalte an verschiedenen Zentren der Gelehrsamkeit. Jedoch waren meine Reisen höchst einzigartiger Natur, da sie lange Aufenthalte an entlegenen und unwirtlichen Orten einschlossen.
1909 verbrachte ich einen Monat im Himalaya und 1911 erregte ich großes Aufsehen mit einer Reise durch die unbekannten Wüsten Arabiens auf dem Rücken eines Kamels. Was auf diesen Reisen geschah, habe ich nie in Erfahrung bringen können.
Im Sommer des Jahres 1912 charterte ich ein Schiff und fuhr damit nördlich von Spitzbergen in die Arktis; nach dieser Reise zeigte ich Anzeichen von Enttäuschung.
Später im selben Jahr verbrachte ich mehrere Wochen allein in den gewaltigen Kalksteinhöhlen im westlichen Virginia, die ich tiefer beschritt als je eine Expedition vor oder nach mir – derart komplexe schwarze Labyrinthe, dass nicht einmal daran zu denken wäre, meinen damaligen Weg nachzuverfolgen.
Meine Aufenthalte an Universitäten waren von abnorm schneller Wissensaneignung geprägt, als habe meine Sekundärpersönlichkeit über eine meiner eigenen weit überlegene Intelligenz verfügt. Ich habe auch herausgefunden, dass die Anzahl der Bücher, die ich in einsamem Studium las, phänomenal hoch war. Ich vermochte, jede Einzelheit eines Buches zu erfassen, indem ich lediglich die Seiten überflog, so rasch ich sie umblättern konnte; auch mein Talent, komplexe Gleichungen binnen einer Sekunde zu interpretieren, war überaus erstaunlich.
Zuweilen tauchten fast abstoßende Berichte über meine Macht auf, das Denken und Handeln anderer zu beeinflussen,
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