Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)
konnten wir natürlich immer noch auf die zeitraubende Methode des Einmeißelns von Wegmarkierungen zurückgreifen.
Wie ausgedehnt die Innenräume, die uns nun offen standen, wirklich waren, ließ sich noch nicht sagen. Die engen und zahlreichen Verbindungen zwischen den einzelnen Gebäuden ließen vermuten, dass wir unterhalb der Eisdecke über Brücken von einem ins andere gelangen konnten, außer dort, wo Mauereinstürze und geologische Spalten uns behinderten, denn in den massiven Bauten selbst schien sich nur wenig Eis gebildet zu haben.
Nahezu durch alle klaren Eisschichten hatten wir gesehen, dass die darunter befindlichen Fenster durch Läden dicht verschlossen waren, so als sei die komplette Stadt in diesem Zustand aufgegeben und anschließend ihre unteren Abschnitte vom Eis für alle Ewigkeit wie in weißen Bernstein eingegossen worden. Es drängte sich wirklich der sonderbare Eindruck auf, dass diese Stätte in dunkler Vorzeit absichtlich verriegelt und verlassen worden war, statt Opfer einer plötzlichen Katastrophe oder des allmählichen Verfalls geworden zu sein. Hatte die unbekannte Bevölkerung das Kommen des Eises vorhergesehen und war en masse ausgezogen, um sich eine weniger bedrohte Bleibe zu suchen? Die genauen physiografischen Eigenschaften der Eisdecke in diesem Gebiet mussten zu einem späteren Zeitpunkt geklärt werden. Ganz offenkundig war sie nicht durch eine zerstörerische Gletscherdrift entstanden. Vielleicht war sie unter dem Druck angesammelter Schneemassen hervorgegangen, vielleicht auch infolge einer Überschwemmung, weil der Fluss über die Ufer trat oder weil in der großen Gebirgskette ein alter Gletscherdamm brach. In Bezug auf diesen Ort waren der Fantasie wirklich keine Grenzen gesetzt.
VI
Es wäre allzu umständlich, wollte ich ausführlich und der Reihe nach über unseren Streifzug durch das höhlenartige, seit ewigen Zeiten tote Wabenlabyrinth vorzeitlicher Mauern berichten – jenen stillen Hort uralter Geheimnisse, der nach zahllosen Zeitaltern nun zum ersten Mal von menschlichen Schritten widerhallte –, besonders, weil vieles der nun folgenden Enthüllungen sich alleine aus der Betrachtung der allgegenwärtigen Reliefs auf den Mauern ergab. Unsere Fotos von diesem Wandschmuck werden viel zur Glaubwürdigkeit dessen beitragen, was wir nun der Welt preisgeben, und es ist bedauerlich, dass wir nur über einen begrenzten Vorrat an Filmen verfügten. Nachdem diese alle verbraucht waren, mussten wir uns mit einfachen Bleistiftskizzen einiger besonders hervorstechender Darstellungen begnügen.
Das Gebäude, in das wir uns Einlass verschafft hatten, war sehr groß und gewährte uns einen imposanten Eindruck von der Architektur jener namenlosen vergangenen Epoche. Die Innenwände waren zwar weniger massiv als die Außenmauern, jedoch in den unteren Geschossen vorzüglich erhalten. Das gesamte Innere war labyrinthartig verschachtelt und sonderbarerweise wechselte immer wieder die Höhe der Fußböden. Zweifellos hätten wir uns ohne unsere Spur aus Papierschnipseln gleich zu Beginn hoffnungslos verirrt.
Wir wollten die baufälligeren oberen Abschnitte zuerst erkunden und stiegen daher gut dreißig Meter in dem steinernen Irrgarten empor, bis zu den höchstgelegenen Kammern, die schneebedeckt und verfallen unter dem Polarhimmel lagen. Für den Aufstieg nutzten wir die steilen, quergeriffelten Steinrampen, die es hier überall statt Treppen gab. Wir stießen auf Räume in allen denkbaren Formen und Abmessungen, von fünfzackigen Sternen über Dreiecke bis hin zu vollkommenen Würfeln. Verallgemeinernd könnte man sagen, dass sie im Durchschnitt eine Grundfläche von 9 x 9 m und eine Höhe von etwa 6 m besaßen, doch viele Kammern waren auch größer.
Nachdem wir die oberen Abschnitte eingehend erforscht hatten, stiegen wir, Stockwerk um Stockwerk, in die eisumhüllten Teile hinab, wo wir bald erkannten, dass wir tatsächlich in einem fortlaufenden Irrgarten miteinander verbundener Räume und Durchgänge unterwegs waren, dessen Ausdehnung vermutlich weit über die Grenzen dieses einen Gebäudes hinausging. Die zyklopische Wucht und Gewaltigkeit von allem, das uns rings umgab, wirkte mit der Zeit eigenartig bedrückend; und vage spürten wir etwas zutiefst Menschenfeindliches in all den Silhouetten, Ausmaßen, Verzierungen und baulichen Feinheiten des blasphemisch alten Mauerwerks. Durch das, was die Reliefdarstellungen enthüllten, offenbarte sich uns schon bald, dass diese
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