Chronik des Cthulhu-Mythos II (German Edition)
ungeheure Stadt viele Millionen Jahre alt war.
Noch sind uns die Konstruktionsprinzipien, die der widernatürlichen Baustatik dieser gewaltigen Steinmassen zugrunde lagen, ein Rätsel, aber ganz offensichtlich nahm das Prinzip des Bogens eine wichtige Funktion ein. Die Räume, die wir durchstreiften, enthielten keinerlei bewegliche Gegenstände, ein Umstand, der uns in der Auffassung bestärkte, dass die Stadt gezielt verlassen worden war. Das wichtigste dekorative Element bestand in den fast allgegenwärtigen figürlichen Darstellungen auf den Mauern, meist in Gestalt fortlaufender horizontaler Friese von einem Meter Breite, welche vom Boden bis zur Decke mit gleich breiten, arabesk gemusterten Friesen abwechselten. Zwar gab es Abweichungen von dieser Regel, doch herrschte sie bei Weitem vor. Häufig waren in diese Friese Reihen mit eigentümlich angeordneten Punktmustern in glatte Zierrahmen eingelassen.
Die bildhauerische Technik, das sahen wir sofort, war vollendet und in ästhetischer Hinsicht bis zum höchsten Grad zivilisierter Meisterschaft entwickelt, wenngleich jedes Detail ihre völlige Fremdartigkeit gegenüber allen bekannten künstlerischen Traditionen der menschlichen Rasse bewies. Was die Anmut der Ausführung betrifft, so kommt kein plastisches Werk, das ich jemals sah, ihr darin auch nur nahe. Die winzigsten Einzelheiten pflanzlichen und tierischen Lebens waren trotz des kühnen Maßstabs der Nachbildungen mit verblüffender Lebendigkeit bis ins Kleinste herausgearbeitet; zugleich stellten die abstrakten Ornamente wahre Wunder an Kunstfertigkeit dar. Die Arabesken verrieten eine tiefe Kenntnis mathematischer Gesetze und bestanden aus sonderbar symmetrischen Krümmungen und Winkeln, die immer auf der Zahl Fünf basierten. Die Bilderfriese folgten einer überaus strengen Formvorschrift und offenbarten eine eigentümliche Behandlung der Perspektive, besaßen dabei jedoch eine künstlerische Kraft, die uns ungeachtet der trennenden Abgründe gewaltiger Zeitalter tief bewegte. Ihr Stil basierte auf einer einzigartigen Vermischung von dreidimensionaler und zweidimensionaler Skizzierung und verriet einen analytischen Verstand, der weit über allen bekannten früheren Menschenrassen stand. Es ist zwecklos, diese Kunst mit irgendetwas aus den Beständen unserer Museen zu vergleichen. Wer unsere Fotografien sieht, wird eine Entsprechung wahrscheinlich am ehesten in einigen grotesken Entwürfen der kühnsten Futuristen entdecken.
Die verschnörkelten Steinmetzarbeiten bestanden fast immer aus eingravierten Linien, deren Tiefe auf unverwitterten Mauern zwischen zweieinhalb und fünf Zentimetern schwankte. Wo Rahmen mit Punktmustern eingebettet waren – offensichtlich Inschriften in einer unbekannten urzeitlichen Sprache und einem ebensolchen Alphabet – lag die glatte Oberfläche ungefähr vier Zentimeter tief und die Tiefe der Punkte betrug vielleicht fünf Zentimeter. Die Bilderfriese waren versenkte Flachreliefs, deren Hintergrund um etwa fünf Zentimeter gegenüber der eigentlichen Maueroberfläche zurücktrat. Stellenweise waren noch Spuren einer einstigen Farbgebung erkennbar, aber meistens hatten die ungezählten Zeitalter sämtliche Pigmente, die vielleicht aufgetragen gewesen waren, zersetzt und abgelöst.
Je länger man die fabelhafte künstlerische Technik studierte, desto mehr Bewunderung nötigten einem diese Arbeiten ab. Neben der streng geschulten Ausarbeitung konnte man die minutiöse und genaue Beobachtungsgabe und bildnerische Begabung ihrer Schöpfer erahnen; ja, die Gestaltung selbst diente dazu, die Essenz und wesentliche Eigenart jedes abgebildeten Gegenstandes zu versinnbildlichen und hervorzuheben. Neben diesen offenkundigen Leistungen spürten wir weitere, die im Verborgenen lagen und sich unserer Wahrnehmungsfähigkeit entzogen. Einige kaum merkliche Feinheiten hier und da bargen eine vage Andeutung auf unterschwellige Symbole, die Reize auslösten, die, hätten wir nur einen anderen geistigen und seelischen Horizont und stärkere Sinnesorgane besessen, uns eine tiefe und überwältigende Bedeutung offenbart hätten.
Offenbar gaben die Reliefs das Leben zur Zeit der versunkenen Epoche wieder und wiesen einen hohen Anteil überlieferter Motive auf. Gerade das auffällige Geschichtsbewusstsein der urzeitlichen Rasse – ein glücklicher Umstand, der uns durch Zufall nun wunderbar zugute kam – machte die Bildhauerarbeiten so enorm aufschlussreich für uns und bewirkte, dass wir
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