Chroniken der Dunkelheit - 01 - Eisdrache
und die man betrügen konnte.
Drei weitere Männer versuchten ihr Glück und scheiterten. Adrian flüsterte Elsa jedes Mal zu: »Der Mittlere.« Oder: »Jetzt der Linke« – und er hatte immer Recht.
»Spiel doch selbst!«, meinte Elsa. »Ich habe noch eine Münze übrig.«
Adrian überlegte. Der Mann behandelte sein Publikum so geringschätzig, dass er eine Lektion verdient hatte. Jemand musste ihm zeigen, dass er es nicht nur mit Dummköpfen zu tun hatte. Er nickte, nahm die Münze, trat vor und legte sie auf den Tisch.
»Du willst dein Glück versuchen, junger Mann?«, fragte der Budenbesitzer und fing schon an, die Becher zu schieben. Adrian konzentrierte sich zunächst auf die Bewegungen, doch war das im Grunde überflüssig. Er brauchte nur durch die Augen des Mannes zu sehen, um zu wissen, wo die Kugel sich jeweils befand.
»Der Becher links«, sagte er, als der Mann die Hände sinken ließ.
Das Gesicht des Mannes erstarrte. »Ganz sicher?«, sagte er fröhlich, aber seine Augen lächelten nicht. Adrian nickte und der Mann hob den Becher hoch. Die Kugel rollte heraus – und die Zuschauer klatschten beifällig. Adrian streckte die Hand nach seinem Preis aus, doch der Budenbesitzer blickte lächelnd in die Runde und gebot mit erhobener Hand Schweigen.
»Du hast ein scharfes Auge, wie ich sehe«, sagte er zu Adrian. »Bestimmt hast du Lust auf einen kleinen Wettkampf!« Er holte einen kleinen Stapel Münzen aus seinem Lederbeutel und hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. »Zehn Silbermünzen, wenn du die Kugel noch zweimal findest! Was sagst du dazu?«
Zu spät fiel Adrian ein, dass sie sich möglichst unauffällig verhalten sollten. Inzwischen hatte sich, angezogen von der lauten Stimme des Becherspielers, eine kleine Menschentraube um den Stand gebildet. Elsa stand mit glänzenden Augen in der ersten Reihe.
»Mach weiter, Adrian!«, drängte sie.
Er bekam die verschiedensten Ratschläge.
»Nimm dein Geld, Junge, sei kein Narr!«
»Seid still, Frau, merkt Ihr nicht, dass das Glück auf seiner Seite ist? Hol dir den Preis, Junge!«
Adrian hörte die Ratschläge nur von ferne. Von Cluaran einige Kupfermünzen für das Essen anzunehmen, war ihm schwergefallen. Zu Hause hatte er freizügig Silbermünzen an die Gefolgsleute seines Vaters verteilt.
»Einverstanden«, sagte er. Die Menge johlte begeistert.
»Dann bekomme ich bitte noch eine Münze«, sagte der Schausteller geschäftig.
Adrian zögerte. »Ich habe leider keine mehr«, stotterte er. Die Umstehenden begannen enttäuscht zu pfeifen. Adrian wurde rot im Gesicht, aber was hätte er tun sollen? Ganz heiß vor Verlegenheit wandte er sich zum Gehen.
Doch der Schausteller hatte Blut geleckt und wollte sein Opfer nicht ziehen lassen. »Na komm schon«, rief er. »Ein wohlsituierter junger Mann wie du wird doch wohl etwas dabeihaben, auf das er wetten kann. Vielleicht einen Ring oder eine Brosche?«
Bevor Adrian eine Antwort geben konnte, war der Mann schon um den Tisch herum gegangen und hatte Adrians Umhang geöffnet. Wütend stieß Adrian die Hand zurück, doch der Mann hatte mit seinen scharfen Augen bereits die glänzende Namensbrosche in den Falten des Mantels entdeckt. Ein entzücktes Lächeln verklärte sein feistes Gesicht.
»Seht ihr das silberne Vögelchen?«, krähte er. »Nehmen wir doch das.« Er sprach jetzt über Adrians Kopf hinweg zu den Zuschauern. »Und man kann doch nicht von einer Wette zurücktreten, wie?« Zustimmendes Gemurmel wurde laut und die Zuschauer drängten neugierig nach vorn.
Adrian spürte, wie Elsa neben ihm sich versteifte. Wir sollten schleunigst von hier verschwinden, dachte er. Doch eine eiserne, durch nichts zu erschütternde Entschlossenheit war über ihn gekommen. Der Schausteller wollte ihn betrügen, aber Adrian wusste, dass ihm das nicht gelingen würde. Er zog seinen Mantel fest um sich, sodass die Brosche in den Falten verschwand, und trat beherzt einen Schritt näher.
»Ich nehme die Wette an«, sagte er fest.
»Was machst du da?«, zischte Elsa.
Adrian hatte keine Zeit, ihr seine Überlegungen zu erklären. All seine Gedanken waren auf den Schausteller konzentriert, der auf die andere Seite des Tisches zurückgekehrt war. Wieder ließ er mit seinen Pranken die Becher über das Brett tanzen. Adrian merkte, dass er diesmal nicht durch die Augen des Mannes blickte, sondern sich auf die Kugel selbst konzentrierte – und ihm war, als antworte die Kugel ihm. Er wusste, unter welchem Becher
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