Chroniken der Dunkelheit - 01 - Eisdrache
sie sich befand! Die Hände wirbelten durcheinander und kamen zur Ruhe. Triumph erfüllte ihn.
»Der Mittlere«, sagte er, ohne hinzusehen.
Er hatte Recht. Die Zuschauer johlten.
Der Mann lächelte nicht mehr. Grimmig hielt er die Kugel hoch und schob sie unter den linken Becher. Von seiner Stimmung angesteckt, verstummte die Menge.
Wieder folgte Adrian der Bewegung der unsichtbaren Kugel von der Mitte nach rechts und wieder in die Mitte. Dann war sie plötzlich verschwunden.
Ob jemand seinen Schrecken bemerkt hatte? Er hatte die Kugel unter dem Becher gespürt. Jetzt spürte er nur noch Leere. Er hörte das Geräusch der Becher auf dem Tisch und das Murmeln der Zuschauer und bemerkte ein verschlagenes Glitzern in den Augen des Schaustellers. Nein, er hatte seine magische Kraft nicht verloren. Wenn er sein Bewusstsein ein wenig ausdehnte, konnte er die Kugel immer noch spüren – zwar nicht mehr auf dem Tisch, aber anderswo, versteckt.
Er wartete, bis die feisten Hände sich nicht mehr bewegten, und schwieg auch dann noch. Der Mann hob die Arme und breitete sie aus.
»Lass dir Zeit«, sagte er freundlich, doch Adrian spürte die unterschwellige Bosheit.
»Die Kugel ist gar nicht mehr unter den Bechern.«
Sie starrten einander einen Augenblick lang an, dann begann der Mann herzhaft zu lachen.
»Wo sollte sie denn sonst sein, junger Mann? All diese braven Leute hier können bestätigen, dass ich die Becher nicht vom Tisch abgehoben habe. Nein, ich habe meinen Teil der Wette gehalten!« Er klang leutselig, doch seine Augen blickten kalt. »Wähle einen Becher.«
Adrian tastete mit seinen Gedanken nach der Holzkugel. Da war sie: Sie lag unter dem Tisch im Gras. Er drehte sich zu den Zuschauern um, die unruhig geworden waren und dem Schausteller Recht gaben.
»Der Mann lügt!«, rief er. »Seht unter den Bechern nach. Der Tisch hat ein Loch.«
Elsa trat auf den Tisch zu, wurde allerdings von einer stämmigen Frau mit wütendem Gesicht beiseitegeschoben, in der Adrian eine frühere Kundin des Schaustellers erkannte.
»Das will ich sehen!«, keifte sie, und bevor der Schausteller sie daran hindern konnte, hatte sie schon alle drei Becher umgeworfen. »Alle leer!«, rief sie. »Ich will mein Geld zurück, bitte schön!«
Der Mann begann mit ihr zu streiten. Eine andere Frau packte unterdessen den Stoff, mit dem der Stand verkleidet war, und riss ihn ab. Die verschwundene Kugel lag deutlich sichtbar auf dem Boden unter dem Tisch. Die Zuschauer begannen empört zu brüllen und drängelten nach vorn und der Schausteller rannte weg, so schnell ihn seine Beine trugen.
Elsa packte Adrian am Arm. »Wir müssen sofort von hier verschwinden«, sagte sie und zog ihn über den Marktplatz.
»Aber nicht da lang«, sagte er. »Verstecken wir uns lieber in der Kirche.«
Sie rannten zur Kirche, doch die Tür war abgesperrt. Fluchend rannte Adrian um die Kirche herum. Elsa folgte ihm. Er eilte auf den Stall des Abts zu, in dem sie die Nacht verbracht hatten.
»Lass uns dort bis Sonnenuntergang warten«, sagte er. »Das dauert sowieso nicht mehr lange.«
Elsa nickte unglücklich. »Tut mir leid, ich hätte dich nicht zu dem Spiel überreden dürfen. Jetzt werden sich alle an uns erinnern.«
»Wir haben uns beide dumm verhalten«, sagte Adrian bitter. »Ich wollte das Geld und ich wollte zeigen, dass ich ihn schlagen kann. Aber da war noch mehr.« Ohne dass er es wollte, verspürte er bei der Erinnerung wieder ein aufgeregtes Kribbeln. »Ich wusste jedes Mal, wo die Kugel lag, Elsa, ich wusste es. Das war nicht die Fähigkeit, die ich laut Aagard besitze, sondern noch etwas anderes. Die Kugel hat ja keine Augen! Und keine Gedanken, die man lesen könnte. Das hat mit der Gabe eines Dunkelauges nichts zu tun. Ich muss herausfinden, was ich damit alles anstellen kann.«
»So?«, sagte eine vertraute Stimme. »Einige finden, du hast schon genug angestellt.«
Elsa fuhr herum. Der Becherspieler stand hinter ihnen, das Gesicht fleckig vor Wut.
»Du hast mich heute eine schöne Stange Geld gekostet«, fauchte er. »Ganz zu schweigen davon, dass du meine Tricks verraten hast. Also gibst du mir zunächst einmal diesen silbernen Vogel.« Er stürzte sich auf Adrian.
Elsa wollte ihn aufhalten. Der Handschuh begann bereits auf ihrer Haut zu leuchten. Doch dann konnte sie sich gerade noch rechtzeitig bremsen. Eine kurze, breite Klinge glitzerte im Sonnenlicht.
Der Mann hielt einen Dolch an Adrians Kehle.
12. KAPITEL
Ich will
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