Chroniken der Dunkelheit - 01 - Eisdrache
natürlich«, sagte er, den Blick unverwandt auf das Kristallschwert gerichtet. »Das Urteil überlasse ich Euch, Orgrim.«
»Aber das dürft Ihr nicht, Herr!«, rief Hauptmann Cathbar.
Orgrim beachtete ihn nicht. »Dann soll der Junge in seine Zelle zurückgebracht werden und dort auf seine Hinrichtung warten«, befahl er.
Auf dem Podium wurde entsetztes Murmeln laut. »Aber den Sohn eines Königs hinzurichten, Herr …«, wandte ein alter Ratsherr zittrig ein.
»Er kam verkleidet hierher«, rief Orgrim. »Ein ehrlicher Besucher tut das nicht.« Der Ratsherr schwieg. »Und Vergeltung von Sussex brauchen wir nicht zu fürchten«, fuhr Orgrim fort. »König Heored führt im Norden Krieg und wird in absehbarer Zeit nicht zurückkehren. Während seiner Abwesenheit regiert die Königin und eine Frau kann unmöglich das mächtige Wessex angreifen.«
Ein Wächter riss Adrian auf die Füße. Ein zweiter Wächter packte Elsa.
»Die Hexe nicht.« Orgrim trat zu Elsa und musterte sie geringschätzig. Sie hörte den Triumph in seiner Stimme. »Sie hat uns noch nicht alles verraten, was sie weiß.« Er verzog höhnisch die Lippen. »Bringt sie in die steinerne Zelle und fesselt sie. Ich werde sie selbst verhören.« Er verbeugte sich tief vor dem König und den Ratsherren und verließ den Saal.
Elsa blickte auf den erlöschenden Strahl in ihrer Hand.
Du hättest mir helfen sollen! ,schrie sie stumm. Jetzt weiß Orgrim, wo du bist. Wolltest du das?
18. KAPITEL
Bei Tageslicht wirkte die kleine Zelle noch trostloser. Adrian hatte an der Tür gerüttelt und die Balkenwände nach Schwachstellen abgesucht, doch vergeblich! Auch stärkere Gefangene als er hätten nicht fliehen können. Außerdem war er an Händen und Füßen gefesselt. Er konnte nur warten. Man würde ihn erst am Abend abholen, dachte er. Hinrichtungen waren in Venta ein öffentliches Schauspiel und fanden bestimmt nicht tagsüber statt, wenn alle arbeiteten. An dem Verhör Elsas durch Orgrim dagegen würde die Öffentlichkeit nicht teilnehmen.
Adrian schloss die Augen, konzentrierte sich, schickte sein Bewusstsein nach draußen und sah sich um. Zu der Wache vor der Tür hatte sich ein zweiter Mann gesellt, doch auch durch seine Augen sah er nur struppiges Gras und die Rückseite der großen Halle des Königs.
Es fiel ihm inzwischen leicht, die Augen anderer Personen zu benützen. Seit seinem Erlebnis mit dem Eber hatte er das Gefühl, die Technik vollkommen zu beherrschen. Mühelos bewegte er sich von Augenpaar zu Augenpaar und hatte, während er durch fremde Augen blickte, sogar seine eigenen Bewegungen unter Kontrolle. Doch solange er in der Zelle festsaß, nützte ihm das alles nichts.
Er überlegte zum hundertsten Mal, wohin man Elsa gebracht haben mochte. Orgrim hatte von einer steinernen Zelle gesprochen. Adrian konnte sich darunter nichts vorstellen. Er konzentrierte sich wieder und schickte seinen Blick in verschiedene Richtungen aus, so weit er konnte. Jemand zerdrückte auf einem Holztisch Bohnen. Eine Frau fütterte Hühner, ein Mann ritt auf einem Pferd – dem rassigen Aussehen des Pferdes nach zu schließen ein Wächter. Ein streunender Hund schnupperte an einem Fleischknochen. Durch die Augen einer über den Platz eilenden Frau sah er das Haus des königlichen Rats. Er ließ sein Bewusstsein in das Gebäude hineinwandern. Ein Sklavenjunge bestreute den Boden mit Binsen.
Doch eine Zelle schien es nirgends zu geben, auch keine Wachen, die eine Gefangene bewacht hätten. Und sosehr er sich in allen Richtungen umsah, nirgends leuchtete der helle Schein, der ihm damals den Weg gewiesen hatte, als er versucht hatte, durch Elsas Augen zu blicken.
Ob sie tot war? Er schob den Gedanken beiseite. Orgrim hatte gesagt, sie solle verhört werden. Sie ist dort, wo Orgrim ist, dachte er.
Orgrim hatte beim Betreten des Ratssaals wieder versucht, in Adrians Gedanken zu schlüpfen. Adrian hatte seine Anwesenheit sofort gespürt. Dabei hatte Orgrim gar nicht durch Adrians Augen sehen wollen. Nicht einmal seine Gedanken hatten ihn interessiert, er hatte ihn nur seine Macht spüren lassen wollen. Mit Erfolg! Sein Bewusstsein war durch Adrian hindurchgefahren wie ein Windstoß und hatte ihn im Innersten erschüttert wie das Knirschen der sinkenden Spearwa, wie das höhnische Grinsen des Drachen, wie die Schwärze des tobenden Meeres.
Adrian vergrub das Gesicht in den Händen. Ein noch unbestimmter Gedanke regte sich in ihm, ein vager Eindruck wie bei einem
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