Chroniken der Jägerin 3
dagegen ist das keineswegs gleichgültig.
Ich ignorierte die Stimme. Ha’an starrte mich an. »Menschen sind wertlos, außer als Nahrung oder als Sklaven.«
»Da irrst du.«
»Mag sein – oder auch nicht, wir hungern jedenfalls. Schau uns an. Allen außer den ganz Jungen fehlen Gliedmaßen, allen fehlt es an Fleisch. Wir sind gezwungen, unsere Toten zu zerlegen.«
»Wie du schon sagtest«, entgegnete ich. »Ihr wollt nicht nur das Fleisch, sondern auch die Schmerzen. Ihr wollt die Hatz, nicht die Mahlzeit. Bevor sich das nicht ändert, kann ich euch nicht helfen .«
Ha’ans Kiefer spannten sich an, während er zu Zee hinuntersah. »Bist du derselben Auffassung?«
Mir stockte der Atem, als Zee zögerte, aber schließlich sagte der kleine Dämon doch: »Ja.«
»Dann stecken wir in einer Sackgasse«, antwortete Ha’an enttäuscht und erschöpft. »Ich kann euch nicht töten. Und obwohl ihr uns alle umbringen könntet, vermute ich, dass ihr es längst getan hättet, wenn ihr das wirklich wolltet.«
Ich war mit Gewalt aufgewachsen und wurde mein ganzes Leben lang Zeuge von Gewalt. Aber ich fand trotzdem keinen Gefallen daran. Ich sah zu Jack und seinem leuchtenden Licht hinüber und fühlte noch ein anderes Licht in mir, das neben den Windungen der Finsternis erstrahlte.
Aber darüber hinaus spürte ich auch mich, mein eigenes Selbst, das sogar noch tiefer reichte als die Finsternis und das Licht. Ich spürte die eigenen Wurzeln in meiner Seele, Wurzeln, mit denen ich schon auf die Welt gekommen war, Wurzeln, die meine Mutter gehegt hatte. Und als ich darüber nachgedacht hatte, alle Mahati zu töten oder sie wenigstens töten zu lassen, da sagte jede Faser meines Wesens: NEIN.
Dann führe sie an , raunte die Finsternis. Das ist der einzige Weg. Niemandem sonst kannst du trauen. Du könntest so viel Gutes tun.
Vor meinen Augen verschwamm alles. Ich streckte meinen Arm nach Zee aus, weil ich seine Schulter brauchte, um mich abzustützen. Ich fühlte mich, als würde ich in die Leere gezogen werden, aber nur mein Geist. Vor meinen Augen zogen Visionen mit betäubender Geschwindigkeit vorbei. In meinem Inneren tauchten Bilder auf. Sie breiteten sich über die geschuppten Windungen der Finsternis aus – wie im Kino.
Es roch nach Rauch. Feuer flackerten. Ich fand mich an einem anderen Ort, obwohl ich mir ganz sicher war, dass mein Körper noch immer im Gefängnisschleier auf dem Stein hockte.
Doch vor meinem geistigen Auge blickte ich durch die schiefen Stämme von Palmen und durch wildes Gestrüpp. Ich hörte Menschenfrauen schreien. Menschenmänner lachten, taumelten ins Blickfeld, waren mit Gewehren und Macheten bewaffnet und schleiften die Frauen über den Boden, von denen die meisten bereits nackt waren. Ich konnte mich nicht rühren, um ihnen zu helfen. Nicht einmal mit all meiner Willenskraft.
Dies geschieht gerade jetzt , sagte die Stimme.
Die Szene verblasste, und an ihre Stelle traten andere, noch schrecklichere Visionen. Visionen voller Leid, jede nur denkbare Demütigung war darunter, und die Stimme sagte: All dies geschieht gerade jetzt, irgendwo . Und so ging es weiter und weiter, ich konnte nicht wegsehen, nicht einmal für eine Sekunde, so lange, bis ich mich vollkommen zerfetzt fühlte, zerfetzt von den tiefen Wurzeln meiner Seele – bis auf die Oberfläche meiner Haut. Ich wollte schon schreien, ich wollte mich für all diese Männer, Frauen und Kinder, die in genau diesem Augenblick
vergewaltigt, ermordet und vergessen wurden, zerreißen. Überall um mich herum, unter mir und jenseits des Schleiers.
Sieh dir an, wofür du verantwortlich bist. Du, Jägerin. Du könntest es doch ändern. Du könntest es mit einem einzigen Wort ändern. Du entscheidest ohnehin schon, wer lebt und wer stirbt. Du, eine Mörderin. Du hast Dämonen und Menschen ermordet. Das macht keinen Unterschied. Führ die Hatz an!
Verzichte nicht auf die Armee, die die Welt ändern könnte.
Lass eine Armee nicht im Stich, die dich braucht. Dieselben Gräuel werden den Mahati widerfahren, wenn du jetzt einfach fortgehst. Früher oder später werden sie vernichtet werden. Kannst du damit leben?
»Nein«, flüsterte ich, und etwas in meinem Inneren zerbrach. Ein Schrei wallte in meiner Brust auf, er erhob sich höher und höher, brannte durch mich hindurch und brachte mich schier um. Ich konnte nicht bekommen, was ich wollte. Nicht beides zugleich. Nicht beides, ohne ein schreckliches Opfer zu bringen. Die ganze
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