Chroniken der Jägerin 3
öffnete er die Tür und humpelte in den Raum. Umgeben von einer merkwürdig ruhigen
Kraft, die eher von seiner inneren Präsenz ausging als von irgendetwas Körperlichem.
»Du kannst dich nicht an ihn erinnern, aber du spürst schon etwas.« Killy lehnte an der Wand und rieb sich den Nacken. »Ich kann es in deinen Augen sehen. Vertraue darauf, und du wirst sehen, dass du dadurch mehr erreichst, als wenn du so verdammt früh am Morgen bei mir an die Tür klopfst.«
»Na klar. Als ob du geschlafen hättest!«
»Ich habe zumindest mit dem Gedanken gespielt«, erwiderte sie, runzelte die Stirn und blickte den Flur hinunter. »Verdammt, die beiden kuscheln ja richtig.«
Ich war schon monatelang nicht mehr hier oben gewesen, aber ich erinnerte mich an einen Raum, der spärlich eingerichtet war, fast ohne Möbel und mit nur wenig Licht. Er hatte sich kaum verändert. Nur das Bett war weg. Dafür war ein Tisch hinzugekommen, ein wackeliges, altes Ding, von dem die grüne Farbe schon abblätterte und dessen gesamte Fläche mit brennenden Kerzen in allen Größen bedeckt war. Einige standen in Gläsern, von anderen tropfte das Wachs in kleine, angeschlagene Schüsseln. Mindestens ein Dutzend weitere brannten in einem Kandelaber, der aussah, als hätte man ihn aus den Ruinen eines gotischen Liebesnests ausgebuddelt. Das Licht war sanft und golden – und der intensive Vanillegeruch ergab endlich auch einen Sinn.
Auf der anderen Seite des Raumes lag eine Matratze auf dem Boden. Weiche Kissen, eine Patchworkdecke, die Bibel und ein ganzer Haufen Ketten. Ketten, die einen Werwolf fesselten.
Braunes Fell bedeckte einen kräftigen, robusten Körper mit einem eher dicken Bauch, der über den Rand einer engen schwarzen Trainingshose hing. Ich sah schwarze Klauen, lange Zähne, ein goldglänzendes blutrotes Auge und eines, das
eine menschliche, braune Farbe hatte. Der Mann hatte keinen Wolfskopf, auch keine spitzen Ohren, aber er hatte eine Wildheit in sich, eine Wildheit dieses Werwolfs, der da in ihm steckte, die nicht mehr menschlich schien und es auch niemals wieder sein würde.
Vater Frank Lawrence. Vielleicht war er der einzige Mensch auf der ganzen Welt mit diesem besonderen… Leiden, auch wenn ich da meine Zweifel hatte, angesichts der Neigungen jener Kreatur, die ihn geschaffen hatte.
In den vergangenen sechs Monaten hatte ich Zeitungsartikel über merkwürdige Beobachtungen in den Randbezirken von Paris und Madrid gelesen: Männer und Frauen, mit Fell bedeckt, die wahllos Leute angriffen, nur um dann vor ihren Opfern wegzulaufen, während sie meistens um Hilfe schrien. Verschiedene Medien behaupteten, es seien Verrückte, die sich kostümiert hätten. Ich glaubte allerdings eher an fortgeschrittene Genmanipulation, die als Waffe und als Spielzeug eingesetzt wurde – von einer Kreatur, die sich selbst für Gott hielt.
Vater Lawrence saß mit übergeschlagenen Beinen da, die Hände auf den Knien ruhend. Er trug an Armen und Fußgelenken eiserne Handschellen, die er aber gar nicht wahrzunehmen schien. Er war ganz und gar auf Grant fixiert, der ebenfalls auf dem Bett saß und seinen Gehstock über die ausgestreckten Beine gelegt hatte. Er sprach leise, aber eindringlich und verstummte, als wir den Raum betraten.
»Hey«, sagte ich, verunsichert durch die Art, wie mich die beiden Männer ansahen: so als hätte ich eine Umkleidekabine betreten, in der die Sportler gerade nackt aus der Dusche kamen. Einen Moment lang flackerte ein Hauch von Verlegenheit über ihre Gesichter, die sich aber kurz darauf in etwas wesentlich Geheimnisvolleres verwandelte. Es war äußerst merkwürdig
zu spüren, wie sich diese Mauern vor mir aufbauten. Normalerweise war es doch immer umgekehrt.
»Maxine«, begrüßte mich Vater Lawrence mit heiserer Stimme. An meinen Beinen spürte ich, wie mich Rohw und Aaz in seine Richtung ziehen wollten: Sie träumten mein Leben, vielleicht sogar das Leben aller Frauen, die schon einmal hier gewesen waren. Zehntausend Jahre – träumen.
Ich gewöhnte mich allmählich an den Raum und badete mein Gesicht in der Hitze von mehr als einem Dutzend brennender Kerzen. »Ihr werdet noch einen Brand auslösen.«
»Meditation«, ächzte Lawrence und schenkte mir ein Lächeln, das seine spitzen weißen Zähne zum Vorschein brachte. »Reflexion lässt mich meine Symptome leichter ertragen.«
»Und die Ketten?«
Sein Lächeln verschwand. »Ich muss mich eben noch ein bisschen mehr entspannen.«
Grant
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