Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
Vampir-Dame Delilah saß weit nach vorn gebeugt auf ihrem Stuhl, mit einem begierigen Ausdruck im Gesicht.
Sofort fielen die anderen Vampire in ihre Forderung ein: »Tod! Tod! Tod!«
Im nächsten Moment erschienen weitere Gestalten aus den Schatten der »Bühne«: Zwei Vampire hatten eine strampelnde menschliche Gestalt unter den Armen gepackt, deren Gesicht unter einer schwarzen Haube verborgen lag.
Tessa konnte lediglich erkennen, dass der Mann schlank war, vermutlich recht jung und sehr schmutzig - die einst elegante Kleidung war zerrissen und hing in Fetzen an ihm herab. Seine nackten Füße hinterließen blutige Streifen auf dem Holzboden, als die beiden Vampire ihn nach vorn zum Bühnenrand schleiften und auf den Stuhl zwangen. Ein leiser Laut der Bestürzung entschlüpfte Tessas Kehle und sie spürte, dass Wills Anspannung noch zunahm.
Der Gefangene strampelte weiterhin schwach vor sich hin, wie ein aufgespießtes Insekt am Ende einer Nadel, während die Vampire seine Hände und Fußgelenke an den Stuhl fesselten. Dann traten sie einen Schritt zurück und machten de Quincey Platz, der sardonisch grinste. Seine Fangzähne schimmerten wie spitze Elfenbeinnadeln, als er sich der Menge zuwandte.
Tessa konnte die Unruhe der Vampire förmlich spüren, aber noch stärker fühlte sie ihren Hunger. Die Kinder der Nacht ähnelten nicht länger einem kultivierten Publikum menschlicher Theaterbesucher - sie waren jetzt so gierig wie Löwen, die Beute witterten, und hockten angespannt auf ihren Stuhlkanten, mit weit aufgerissenen, glitzernden Augen und heißhungrig geöffneten Mündern.
»Wann kannst du die Brigade benachrichtigen?«, raunte Tessa Will in drängendem Ton zu.
»Sobald er Blut saugt«, erwiderte Will, mit angespannter Stimme. »Wir müssen erst mit eigenen Augen sehen, dass er das Gesetz bricht.«
»Will ...«
»Tessa.« Er wisperte ihren richtigen Namen, griff nach ihrer Hand und drückte sie eindringlich. »Bleib ruhig.«
Widerstrebend wandte Tessa sich wieder der Bühne zu, wo de Quincey sich nun dem gefesselten Gefangenen näherte. Theatralisch blieb er neben dem Stuhl stehen, streckte die Hand aus und strich mit bleichen, dünnen Fingern leicht über die Schulter des Mannes, so leicht, als streifte eine Spinnwebe darüber. Trotzdem zuckte der Gefangene zurück und wand sich verzweifelt, als die Vampirhand langsam von seiner Schulter zu seinem Hals wanderte. Dort legte de Quincey zwei weiße Finger auf die Stelle, unter der die Halsschlagader pulsierte - wie ein Arzt, der den Herzschlag eines Patienten überprüfen wollte.
Das Clanoberhaupt trug einen silbernen Ring, der an der Seite zu einer scharfen Spitze gefeilt war. De Quincey ballte seine Hand zur Faust und einen Sekundenbruchteil später blitzte ein silberner Lichtstrahl auf und der Gefangene stieß einen gellenden Schrei aus. Der erste Laut, den er überhaupt von sich gab - und der Tessa seltsam bekannt vorkam.
Eine dünne rote Linie erschien an der Kehle des Mannes wie ein Stück roter Draht. Dann quollen dicke Bluttropfen hervor, rannen hinunter und sammelten sich in der Vertiefung am Schlüsselbeinansatz. Der Gefangene zuckte und strampelte, als de Quincey mit vor Gier verzerrtem Gesicht zwei Finger in die rote Flüssigkeit tauchte und seine roten Fingerspitzen zum Mund führte. Die Menge raste und stöhnte, kaum fähig, auf den Plätzen zu bleiben. Tessa sah zu der Vampirin mit dem blauen Kleid und dem weißen Federhut hinüber: Ihr Mund stand weit auf und Speichel rann an ihrem Kinn hinab.
»Will«, flehte Tessa unterdrückt. »Will, bitte.«
Statt einer Antwort schaute Will über ihren Kopf hinweg zu Bane. »Magnus. Bring sie hier raus.«
Irgendetwas tief in Tessa rebellierte gegen die Vorstellung, wie ein kleines Kind fortgeschickt zu werden. »Will, nein, ist schon in Ordnung, ich möchte lieber hierbleiben ...«, protestierte sie.
Wills Stimme klang leise, aber seine Augen blitzten. »Das haben wir bereits zur Genüge durchdiskutiert. Geh jetzt oder ich werde die Brigade nicht benachrichtigen. Geh oder dieser Mann wird sterben!«
»Kommen Sie.« Magnus legte eine Hand unter Tessas Ellbogen, um ihr aufzuhelfen.
Widerstrebend gestattete sie dem Hexenmeister, sie von ihrem Stuhl hochzuziehen und in Richtung Tür zu schieben. Nervös schaute sie sich um, ob wohl irgendjemand ihren vorzeitigen Aufbruch bemerkte, doch sämtliche Augen waren auf de Quincey und den Gefangenen gerichtet. Viele der Vampire hatten sich nicht
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