Chroniken der Schattenjäger 1 - Clockwork Angel
Er drehte sich um, ging zu dem Bücherregal, das Tessa wenige Minuten zuvor eingehender betrachtet hatte, und winkte die beiden zu sich heran. Dann schnippte er erneut mit den Fingern, woraufhin blaue Funken von seiner Hand sprühten, die illustrierte Bibelausgabe zur Seite schwang und ein kleines Guckloch bloßlegte, das in die Rückwand des Regals eingelassen worden war.
Als Tessa sich überrascht vorbeugte und hindurchspähte, sah sie, dass dahinter ein eleganter Musiksalon lag. Zumindest nahm sie das an: Mehrere Reihen mit Stühlen waren zum hinteren Bereich des Raums ausgerichtet, wo der Boden leicht anstieg und eine Art improvisierte Bühne bildete. Die hintere Wand dieses kleinen »Theatersaals«, der von zahlreichen Kerzen in schweren Ständern erhellt wurde, war von einem roten Satinvorhang verdeckt, vor dem nur ein einzelner Holzstuhl mit hoher Rückenlehne stand.
Handfesseln aus Stahl waren an den Armlehnen befestigt und glitzerten im Kerzenschein wie Insektenpanzer. Tiefrote Flecken ließen das Holz an manchen Stellen dunkler schimmern, und als Tessa genauer hinsah, bemerkte sie, dass jemand die Stuhlbeine am Boden festgeschraubt hatte.
»Das ist der Raum, in dem ihre kleinen ... Vorführungen stattfinden«, stieß Magnus mit einem angewiderten Unterton hervor. »Sie bringen ihr menschliches Opfer auf die Bühne und fesseln es an den Stuhl. Und dann nehmen sie abwechselnd einen Bissen und saugen ihr Opfer langsam aus, während die Menge zuschaut und applaudiert.«
»Und daran ergötzen sie sich?«, fragte Will voller Abscheu. »Am Schmerz der Irdischen? Ihrer Angst?«
»Nicht alle Kinder der Nacht sind so«, erklärte Magnus leise. »Diese hier sind die schlimmsten.«
»Und die Opfer ... woher nehmen sie sie?«, hakte Will nach.
»Bei den meisten handelt es sich um Kleinkriminelle«, erklärte Magnus. »Oder Trunkenbolde, Opiumsüchtige, Huren. Die Vergessenen der Gesellschaft. Diejenigen, die niemand vermisst«, fügte er hinzu und sah dann Will fest in die Augen. »Würdest du mir freundlicherweise deinen Plan ausführlicher schildern?«
»Wir greifen ein, sobald wir sehen, dass das Gesetz gebrochen wird«, erläuterte Will. »In dem Moment, in dem ein Vampir einem Menschen Schaden zufügen will, gebe ich das Zeichen an die Brigade, die dann sofort einschreiten wird.«
»Wirklich?«, staunte Magnus. »Und wie kommen sie in das Gebäude hinein?«
»Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, erwiderte Will unbeirrt. »Deine Aufgabe besteht darin, Tessa in diesem Moment sicher aus dem Haus zu schaffen. Thomas wartet draußen bereits mit der Kutsche und wird euch umgehend zum Institut zurückbringen.«
»Das erscheint mir als eine schreckliche Verschwendung meiner Fähigkeiten - mich einzig und allein mit der Betreuung eines nicht allzu großen Mädchens zu beauftragen«, bemerkte Magnus. »Sicherlich gibt es für mich noch etwas anderes ...«
»Das ist eine reine Schattenjäger-Angelegenheit«, unterbrach Will den Hexenmeister. »Wir machen das Gesetz und wir hüten es. Deine bisherige Unterstützung war von unschätzbarem Wert, doch mehr benötigen wir nicht von dir.«
Magnus warf Tessa über Wills Schulter einen ironischen Blick zu. »Die stolze Unnahbarkeit der Nephilim. Sie machen Gebrauch von dir, wenn sie dich gebrauchen können, aber sie bringen es nicht über sich, einen Triumph mit den Schattenweltlern zu teilen.«
Tessa wandte sich an Will: »Dann schickst du mich also auch fort, bevor der Kampf beginnt?«
»Ich habe keine andere Wahl«, erklärte Will. »Für Camille wäre es besser, wenn man sie nicht mit den Schattenjägern kooperieren sieht.«
»Das ist Unsinn«, widersprach Tessa. »De Quincey wird genau wissen, dass ich ... dass sie dich hierher gebracht hat. Er wird darüber im Bilde sein, dass sie bezüglich deiner Herkunft gelogen hat. Glaubt sie denn, dass der Rest des Clans nach dieser Aktion nicht weiß, dass sie eine Verräterin ist?«
In dem Moment hörte Tessa, wie Camille tief in ihrem Hinterkopf in ein leises, glucksendes Lachen ausbrach - sie klang nicht im Geringsten besorgt oder verängstigt.
Will und Magnus tauschten einen Blick. »Sie geht nicht davon aus, dass auch nur einer der heute hier anwesenden Vampire diesen Abend überleben wird«, erklärte der Hexenmeister.
»Und Tote können nicht mehr reden«, fügte Will leise hinzu. Das flackernde Licht in der Bibliothek überzog sein Gesicht mit schwarzen und goldfarbenen Flecken und sein Kiefer
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