Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
die Straßen Londons zu bewegen, überlegte Tessa, während sie sich durch die Menschenmengen auf der Eastcheap schlängelte. Die Passanten, hauptsächlich Männer, die ihr entgegenkamen, würdigten sie kaum eines Blickes und schoben sich auf ihrem Weg zum nächsten Wirtshaus oder zur nächsten Straßenecke einfach an ihr vorbei. Wenn sie als junge Dame um diese Uhrzeit allein unterwegs gewesen wäre, hätte man sie unverhohlen angestarrt und ihr höhnische Bemerkungen nachgerufen. Aber als Mann schien sie praktisch unsichtbar. Tessa hatte nie darüber nachgedacht, wie es sich anfühlen musste, unbemerkt durch die Straßen zu laufen... wie leicht und unbeschwert sie sich fühlte - oder eben gefühlt hätte, wenn sie sich nicht wie ein Adliger aus Dickens’ Eine Geschichte aus zwei Städten auf dem Weg zur Guillotine vorgekommen wäre.
Nur ein einziges Mal konnte sie einen kurzen Blick auf Cyril werfen, als dieser in einer Gasse zwischen zwei Gebäuden verschwand, die schräg gegenüber von 32 Mincing Lane lag. Tessa blieb einen Moment stehen und betrachtete das Lagerhaus: ein großes Steingebäude, umgeben von einem schwarzen Eisengitter, das im schwindenden Licht der Abenddämmerung wie eine Reihe abgebrochener, fauliger Zähne aussah. Ein Vorhängeschloss baumelte von einem der Flügel des Haupttors herab, das einen Spalt geöffnet war. Tessa schlüpfte rasch hindurch und eilte die staubigen Stufen zur Eingangstür hinauf, die ebenfalls offen stand.
Im Inneren des Gebäudes fand sie eine Reihe von leeren, verlassenen Büroräumen vor, deren Fenster auf die Mincing Lane hinausgingen; an einer der Scheiben brummte eine Fliege, die sich wieder und wieder gegen das Glas warf, bis sie schließlich erschöpft auf die Fensterbank herabfiel. Tessa erschauderte kurz und hastete dann weiter.
Bei jedem Raum, den sie betrat, rechnete sie angespannt mit Nates Anwesenheit, doch er war nirgends zu sehen. Im letzten Büro führte eine Tür hinaus in die Lagerhalle. Gedämpftes bläuliches Licht fiel durch die Risse zwischen den Brettern, mit denen die Fenster vernagelt waren. Unschlüssig schaute Tessa sich um und wisperte dann: »Nate?«
In dem Moment trat er aus dem Schatten zwischen zwei Pfeilern, von denen bereits der Putz abbröckelte. Sein blondes Haar, das unter dem schwarzen Zylinder hervorschaute, leuchtete im bläulichen Licht. Nate trug einen Gehrock aus dunkelblauem Tweed, eine schwarze Hose und schwarze Stiefel, aber seine normalerweise tadellose Erscheinung wirkte ungepflegt. Mehrere Strähnen hingen ihm in die Augen und eine breite Schmutzspur verlief über seine Wange. Seine Kleidung war zerknittert, als hätte er darin geschlafen. »Jessamine. Mein Schatz«, rief er erleichtert und breitete die Arme aus.
Langsam kam Tessa näher; ihr ganzer Körper stand unter Anspannung. Sie wollte nicht, dass Nate sie berührte, sah aber keine Möglichkeit, die Umarmung zu vermeiden. Nate schlang die Arme um sie, griff dann nach ihrem Hut und nahm ihn fort, sodass sich Jessamines blonde Locken über ihren Rücken ergossen. Unwillkürlich dachte Tessa an Will, daran, wie er die Perlennadeln aus ihren Haaren gelöst hatte, und ihr Magen ballte sich zusammen. »Ich muss wissen, wo der Magister ist«, setzte sie mit zittriger Stimme an. »Es ist furchtbar wichtig. Ich habe nämlich zufällig mitgehört, wie die anderen im Institut einen Plan geschmiedet haben. Und ich weiß ja, dass du mir seinen Aufenthaltsort nicht mitteilen wolltest, aber ...«
Nate schob ihr die Haare aus dem Gesicht und ignorierte ihre Worte. »Ich verstehe«, sagte er mit tiefer, heiserer Stimme. »Aber zuerst ...« Er legte einen Finger unter ihr Kinn und hob ihren Kopf an. »Komm denn, Liebchen, küss mich herzig!« [25]
Tessa wünschte, er würde nicht Shakespeare zitieren - sie würde diese Zeile nie wieder hören können, ohne dabei das Gefühl zu haben, sich gleich übergeben zu müssen. Jede Faser ihres Körpers hätte sich am liebsten schreiend abgewandt, als er sich zu ihr hinabbeugte. Und sie betete, dass die Schattenjäger endlich herbeistürmen würden, während sie Nate gleichzeitig erlauben musste, ihren Kopf anzuheben, höher und höher ...
Doch plötzlich brach Nate in Gelächter aus. Mit einer raschen Handbewegung schleuderte er ihren Hut in die Schatten; seine Finger packten ihr Kinn und seine Nägel bohrten sich dabei in ihre Haut. »Ich bitte vielfach um Vergebung für mein ungestümes Verhalten«, höhnte er. »Aber ich war
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