Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
vergraben, als sie ein Geräusch hörte: Jemand klopfte leise an die Tür. Sie erstarrte und lauschte angestrengt. Da war es wieder - leise, aber beharrlich. Jem. Augenblicklich sprang Tessa aus dem Bett, lief zur Tür und riss sie mit zitternden Händen auf.
Vor ihr stand Sophie. Sie trug ihre schwarze Dienstmädchenkleidung, aber die weiße Haube saß schief und ihre dunklen Locken hatten sich aus dem Haarknoten gelöst. Ein entsetzter Ausdruck lag auf ihrem kreidebleichen Gesicht und an ihrem Kragen klebte Blut.
»Sophie«, stieß Tessa überrascht hervor. »Was ist passiert?«
Ängstlich schaute Sophie sich um und bat: »Darf ich eintreten, Miss?«
Tessa nickte und hielt ihr die Tür auf. Als Sophie ins Zimmer geschlüpft war, schob Tessa den Riegel vor und ließ sich auf der Bettkante nieder - eine böse Vorahnung lastete wie ein schweres Gewicht auf ihrer Brust.
Statt sich hinzusetzen, blieb Sophie vor Tessa stehen und rang rastlos die Hände.
»Sophie, bitte, was ist passiert?«
»Es geht um Miss Jessamine«, platzte Sophie heraus.
»Was ist mit Jessamine?«
»Sie ... ich wollte nur sagen ... ich habe sie beobachtet ...« Sophie verstummte und zog eine unglückliche Miene. »Sie hat sich des Öfteren nachts fortgeschlichen, Miss.«
»Tatsächlich? Auch ich habe sie gestern Nacht gesehen, allerdings nur auf dem Flur. Sie war wie ein Mann gekleidet und wirkte ziemlich heimlichtuerisch ...«
Sophie schaute erleichtert. Sie konnte Jessamine zwar nicht besonders leiden, das wusste Tessa genau, aber sie war auch ein gut ausgebildetes Dienstmädchen. Und gut ausgebildete Dienstmädchen tratschten nicht über ihre Herrschaften. »Ja«, bestätigte sie eifrig, »ich beobachte das jetzt schon seit Tagen. Manchmal ist ihr Bett vollkommen unberührt oder morgens liegt Dreck auf ihrem Teppich, der abends noch nicht dort war. Eigentlich wollte ich Mrs Branwell davon erzählen, aber sie hat im Moment so viel um die Ohren, dass ich es einfach nicht fertiggebracht habe.«
»Und aus welchem Grund erzählst du es nun mir?«, fragte Tessa. »Allem Anschein nach hat Jessamine einen Verehrer gefunden. Ich kann zwar nicht behaupten, dass ich ihr Benehmen gutheißen würde, aber ...« Tessa musste schlucken, als sie an ihr eigenes Verhalten in der Nacht zuvor dachte. »Aber keiner von uns trägt dafür die Verantwortung. Und möglicherweise gibt es ja eine ganz harmlose Erklärung ...«
»Aber, Miss, ich ...« Sophie schob ihre Hand in die Tasche ihrer Dienstmädchenuniform und zog eine steife cremegelbe Karte hervor. »Heute Abend habe ich das hier gefunden. In Miss Jessamines neuer Samtjacke - Sie wissen schon, die mit dem naturfarbenen Streifenmuster.«
Tessa interessierte sich nicht für das Streifenmuster; ihr Blick war auf die Karte geheftet. Langsam streckte sie die Hand aus, nahm sie entgegen und drehte sie um. Es handelte sich um eine Einladung zu einem Ball:
20. Juli 1878
MR BENEDICT LIGHTWOOD
gibt sich die Ehre,
MISS JESSAMINE LOVELACE
zu einem Maskenball einzuladen,
der am nächsten Dienstag,
den 27. Juli stattfindet.
U.A. w.g.
Die Einladung enthielt noch weitere Angaben dazu, wo und ab wie viel Uhr der Ball veranstaltet wurde, aber die kurze Nachricht auf der Rückseite der Karte ließ Tessa das Blut in den Adern gefrieren. Dort waren in einer flüchtigen Handschrift, die ihr so vertraut war wie ihre eigene, ein paar hastige Zeilen niedergeschrieben:
Meine liebe Jessie.
Mein Herz platzt beinahe vor Freude bei dem Gedanken, Dich morgen Abend beim »großen Ball« wiederzusehen. Aber so großartig diese Feier auch sein mag, ich werde nur Augen für Dich haben - für nichts und niemand sonst. Bitte sei so gütig und trage das weiße Kleid, mein Schatz, da Du doch weißt, wie sehr es mir an Dir gefällt - »Im Perlenschimmer und im Atlasglanz«, wie der Dichter zu sagen pflegte.
Auf ewig der Deine,
N.G.
»Nate«, murmelte Tessa wie betäubt und starrte auf die Zeilen. » Nate hat das geschrieben. Und er hat Tennyson zitiert.«
Sophie zog scharf die Luft ein. »Das hatte ich schon befürchtet ... aber ich dachte, das wäre nicht möglich. Nicht nach allem, was er getan hat.«
»Ich erkenne die Handschrift meines Bruders.« Tessas Stimme bekam einen grimmigen Ton. »Er will sich heute Abend mit ihr treffen, auf diesem ... diesem geheimen Ball. Sophie, wo steckt Jessamine? Ich muss sofort mit ihr sprechen.«
Sophie rang jetzt noch nervöser die Hände. »Nun ja, genau das ist das Problem, Miss
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