Chroniken der Schattenjäger 2 - Clockwork Prince
geschwollenen Füße schmerzten unerträglich und sie hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Verfaulende Zähne, überlegte sie, und fühlte sich am ganzen Körper krank - so elend, dass sie sich zwingen musste, sich auf die Dunkelheit um sie herum zu konzentrieren und das Licht zu finden, die Verbindung, die sie mit dem anderen Geist untrennbar verknüpfte.
Und tatsächlich: Das Licht tauchte auf, allerdings nicht wie üblich als beständiger Leitstrahl, sondern in bruchstückhaften Blitzen - als würde sie zusehen, wie ein Spiegel in tausend Stücke brach. Jedes Fragment zeigte ein Bild, das jedoch an ihr vorbeirauschte, manchmal mit erschreckender Geschwindigkeit. Tessa sah das Bildnis eines scheuenden Pferdes, einen dunklen, schneebedeckten Hügel, den mit schwarzem Basalt verkleideten Sitzungssaal des Rats, einen rissigen Grabstein. Es fiel ihr schwer, ein einzelnes Bild zu erfassen und festzuhalten. Endlich erwischte sie eines - eine Erinnerung: Starkweather, der mit einer lachenden Frau in einem weit fallenden Ballkleid tanzte. Tessa verwarf das Bild und tastete nach einem anderen:
Das Haus war klein und tief in die Schatten zwischen zwei Hügeln geduckt. Starkweather beobachtete die Szenerie aus dem Dämmerlicht einer Baumgruppe heraus: Die Haustür schwang auf und ein Mann trat ins Freie. Tessa konnte spüren, wie selbst in der Erinnerung Starkweathers Herz schneller zu schlagen begann. Der Mann war groß, breitschultrig - und grünhäutig wie eine Echse. Seine Haare schimmerten tiefschwarz. Dagegen wirkte das Kind, das er an der Hand hielt, vollkommen normal - klein, mit winzigen Pummelhändchen und rosiger Haut.
Tessa wusste den Namen des Mannes, weil Starkweather ihn kannte.
John Shade.
Shade hievte sich das Kind auf die Schultern, als eine Reihe merkwürdig aussehender Metallkreaturen durch die Haustür ins Freie drängte. Die gesichtslosen Gestalten erinnerten an Gliederpuppen, allerdings lebensgroß und aus glänzendem Metall gefertigt. Seltsamerweise waren sie bekleidet - manche trugen den groben Overall der Landarbeiter, andere ein schlichtes Musselinkleid. Die Klockwerk-Automaten reichten einander die Hände und begannen, sich im Kreis zu drehen, wie bei einem Volkstanz. Das Kind lachte und klatschte in die Händchen.
»Sieh sie dir genau an, mein Sohn«, sagte der grünhäutige Mann, »eines Tages werde ich ein Königreich dieser Klockwerk-Kreaturen regieren und du wirst sein Prinz sein.«
»John!«, drang eine Stimme aus dem Inneren des Hauses und eine Frau lehnte sich aus dem Fenster. Sie besaß lange Haare, die in der Farbe eines wolkenlosen blauen Himmels glänzten. »John, komm wieder rein. Sonst sieht euch noch jemand! Und außerdem jagst du dem Jungen Angst ein!«
»Er hat kein bisschen Angst, Anne.« Der Mann lachte, setzte den Jungen auf dem Boden ab und fuhr ihm liebevoll durch die Haare. »Mein kleiner Klockwerk-Prinz ...«
Eine Woge des Hasses erfasste Starkweathers Herz bei der Erinnerung an diese Szene - ein solch ungestümer Hass, dass Tessa losgerissen wurde und wieder durch die Dunkelheit wirbelte. Langsam dämmerte ihr, was hier vorging: Starkweather wurde allmählich senil und verlor zunehmend den Faden, der seinen Verstand mit seinen Erinnerungen verband. Die Bilder überfluteten scheinbar wahllos sein Gehirn. Angestrengt versuchte Tessa, sich die Familie Shade wieder vor Augen zu rufen, und erwischte schließlich einen Zipfel einer Erinnerung: ein verwüstetes Zimmer, überall zerbrochene Zahnräder, Riemen, Getriebe und Metallteile, eine langsam sickernde Flüssigkeit, so schwarz wie Blut, und dann der grünhäutige Mann und die blauhaarige Frau ... tot inmitten der Trümmer. Einen Sekundenbruchteil später war auch dieser Erinnerungsfetzen verschwunden und Tessa bekam wieder und wieder das Gesicht des jungen Mädchens zu sehen, dessen Porträt im Treppenhaus des Yorker Instituts gehangen hatte: das kleine Kind mit den blonden Haaren und dem unbeugsamen Ausdruck in den Augen. Tessa sah, wie das Mädchen mit entschlossener Miene auf einem kleinen Pony ritt, sah, wie ihr Haar im Wind wehte, sah, wie sie vor Schmerz kreischte und zappelte, als eine Stele auf ihren Arm aufgesetzt wurde und schwarze Male ihre makellos weiße Haut befleckten. Und schließlich sah Tessa ihr eigenes Gesicht, das aus den Schatten des düsteren Kirchenschiffs im Yorker Institut auftauchte. Und sie spürte, wie der Schock, den Starkweather bei ihrem Anblick erlitten hatte, auch sie selbst
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