Chroniken der Schattenkrieger (German Edition)
Das war wohl das Mindeste. Die wundervollen
Ergüsse seiner poetischen Fähigkeiten durften nicht vor der Welt versteckt
werden, sondern mussten an die Öffentlichkeit, damit ihm die Bewunderung
zuteilwurde, die er verdiente.
Nach
und nach kamen die anderen Schüler an die Reihe und trugen ihre Ergebnisse vor.
Oft waren die Gedichte kurz und ohne tiefe Bedeutung. Die richtigen Wörter für
einen wohlklingenden Reim zu finden, war ebenfalls nicht allen gelungen. Als
Sydney an die Reihe kam, schlug ihr Herz wie wild in der Brust. Sie versuchte,
ihre Aufregung zu überwinden, und atmete tief ein und wieder aus.
Als
sie anfing, ihr Gedicht vorzulesen, hob Anthony seinen Blick und schaute sie
an. Diesmal war es kein flüchtiger Blick – seine Augen waren direkt und
ausschließlich auf sie fixiert. Die Vorstellung, dass ihr Gedicht dem hübschen
Neuling gefallen könnte, war für sie angenehm und aufregend zugleich.
Mit
zittriger Stimme schaffte sie es endlich, das Gedicht zu Ende zu lesen, und sie
setzte sich auf ihren Platz. Ihre Knie zitterten leicht, doch als sie den
unterstützenden Beifall ihrer Mitschüler hörte, fiel ihr eine unsichtbare Last
von den Schultern.
Die
Unterrichtsstunde neigte sich langsam, aber sicher dem Ende zu. Anthony war als
Letzter an der Reihe. Freundlich bat Mrs. Garden den jungen Mann aufzustehen,
sich in die Mitte des Klassenraumes zu stellen und dem Beispiel seiner
Mitschüler zu folgen.
Sydney
spürte, wie sie ihre Fingernägel tiefer und tiefer in das harte Deckblatt ihres
Blocks drückte. Unbewusst und von der Aufregung angetrieben merkte sie, wie
sich ihr ganzer Körper anspannte und sich verkrampfte.
Mit
einem müden Gang bewegte sich Anthony in die Mitte der Klasse und öffnete seine
Aufzeichnungen. Er räusperte sich, legte den Zeigefinger aufs Blatt, um so die
Sätze besser zu verfolgen, und fing an, vorzulesen.
Es war einmal ein junger Dieb,
er war in eine Frau verliebt.
Doch sie sah ihn nicht einmal an,
sie war sehr reich, er war sehr arm.
Er war nicht wie die anderen Diebe,
sein Herz war voll mit süßer Liebe.
Sie war so schön wie eine Blume,
er aber hässlich wie …
Er liebte sie, nur sie allein,
er war recht groß, sie aber klein.
Doch einmal war sie sehr erstaunt,
er kam zu ihr und sagte laut:
Prinzessin, oh, ich liebe dich!
Doch sie ging weg und sagte nur:
das tu ich aber nicht .
Kapitel 12 – Das Rugby-Training
Portland
(US-Bundesstaat Maine). Das Jahr 2010. Sommer.
Jeremys
Gesicht war nass. Kleine einzelne Schweißtropfen glitten langsam von seiner
Stirn herunter, sammelten sich zu einem Rinnsal und tropften auf seine Wimpern
herab. Hin und wieder schaffte es die salzige Flüssigkeit, bis an die
Augenoberfläche zu gelangen, und verursachte dadurch ein kurzes, unangenehmes
Stechen.
Den
eierförmigen Ball fest umklammert, rannte Jeremy quer über das Rugbyfeld und
näherte sich mit jedem Schritt seinem Ziel. Fast niemand aus seinem neuen Team
konnte es beim Sprint mit ihm aufnehmen, lediglich die beiden Winson-Brüder
bereiteten ihm Sorgen. Wie zwei Aasgeier klebten sie an seinen Fersen und
ließen ihm keinen Spielraum, um von seiner Route abzuweichen, doch einholen
konnten sie ihn nicht.
„Erstklassig!“,
rief der Trainer Joe von Weiten und machte aus seiner Begeisterung für den
neuen Schüler kein Geheimnis.
Als
Jeremy das erste Mal zu ihm gekommen war, um sich für einen Platz im Schulteam
einzuschreiben, sah Trainer Joe den seiner Ansicht nach etwas zu stark gebauten
Jungen skeptisch an. Auf den ersten Blick vermittelte er nicht den Eindruck,
sich einem Trainer unterordnen und schon gar nicht in einem Team mitspielen zu können.
Seine Art zu reden und die Mitmenschen anzuschauen vermittelte nicht den
Eindruck, dass er besonders kommunikativ und teamfähig wäre.
Das
Talent für das Spiel zeigte sich bei Jeremy jedoch schnell. Er liebte den
Wettstreit und das Gemenge, wenn es darum ging, den Ball an sich zu reißen.
Aber was ihm den größten Spaß bereitete, war der Sprint. Trainer Joe genoss es
förmlich, dem jungen Burschen beim Spiel zuzusehen, denn er erinnerte ihn immer
an sich selbst, als er noch in voller Blüte seiner Kräfte war. Was ihm jedoch
Kummer bereitete, war die Missgunst, die Elias und Aragon dem Neuling deutlich
entgegenbrachten.
Trainer
Joe steckte sich die silbrig schimmernde Pfeife in den Mund, blies hinein und
winkte seinen Schülern zu, damit sie sich um in versammelten. Die Pfeife
baumelte an einem
Weitere Kostenlose Bücher