Chroniken der Unterwelt Bd. 1 City of Bones
schwimmen. An der Ecke vor ihrer Häuserzeile wurde sie von einer roten Ampel gestoppt. Ungeduldig wippte sie auf den Fußballen vor und zurück, während der Verkehr in einem Strom blendender Lichter an ihr vorbeizog. Sie versuchte erneut, zu Hause anzurufen, doch Jace hatte nicht gelogen; sein Sensor war kein Mobiltelefon. Zumindest ähnelte er nicht den Telefonen, die Clary kannte. Die Knöpfe des Geräts waren nicht mit Zahlen beschriftet, sondern trugen bizarre Symbole und ein Display gab es auch nicht.
Während sie auf ihr Haus zulief, bemerkte sie, dass alle Fenster im zweiten Stock erleuchtet waren – normalerweise ein Zeichen dafür, dass ihre Mutter zu Hause war. Okay, redete sie sich selbst gut zu, alles ist in Ordnung. Doch als sie die Haustür aufstieß, krampfte sich ihr Magen zusammen.
Die Flurlampe war durchgebrannt und die Eingangshalle lag im Dunkeln. Hinter jedem Schatten schienen Bewegungen zu lauern. Schaudernd nahm sie die ersten Treppenstufen.
»Wo willst du hin, Kleine?«, fragte unvermittelt eine Stimme.
Clary wirbelte herum. »Was …?«
Sie verstummte. Ihre Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit und sie konnte die Umrisse eines großen Ohrensessels erahnen, der vor Madame Dorotheas verschlossene Tür gerückt worden war. Darin eingeklemmt, wie ein zu pralles Sofakissen, saß die alte Dame. Im Zwielicht konnte Clary nur die runden Umrisse ihres gepuderten Gesichts ausmachen, den weißen Spitzenfächer in ihrer Hand, und wenn sie redete, die dunkel klaffende Öffnung ihres Mundes. »Deine Mutter hat einen Mordslärm da oben veranstaltet«, setzte Dorothea an. »Was treibt sie denn? Möbelrücken?«
»Hören Sie, ich glaube nicht …«
»Und die Treppenhausbeleuchtung ist durchgebrannt.« Dorothea klopfte mit dem Fächer auf die Sessellehne. »Kann deine Mutter nicht mal ihren Freund bitten, die Birne zu wechseln?«
»Luke ist nicht …«
»Und das Oberlicht müsste mal geputzt werden. Kein Wunder, dass es hier so finster ist.«
Luke ist nicht der Vermieter, hätte Clary am liebsten erwidert, doch sie schwieg. Das war wieder typisch für die Alte. Sobald sie Luke so weit hatte, die Birne zu wechseln, würde sie ihm noch Hunderte anderer Jobs auftragen – ihre Einkäufe abholen, den Abfluss in ihrer Dusche reinigen und so weiter. Einmal hatte sie ihn ein altes Sofa mit der Axt zerkleinern lassen, damit sie es aus der Wohnung bekam, ohne die Türen auszuhängen.
Clary seufzte. »Ich werd ihn fragen.«
»Tu das.« Dorothea ließ den Fächer zuschnappen.
Clarys mulmiges Gefühl verstärkte sich, als sie die Wohnungstür erreichte. Sie stand einen Spaltbreit offen und ein keilförmiger Lichtkegel fiel auf den Treppenabsatz. Mit einem wachsenden Gefühl der Panik stieß Clary die Tür auf.
In der Wohnung brannten alle Lampen; alles strahlte so hell wie irgend möglich. Das grelle Licht schmerzte in den Augen.
Die Schlüssel und die rosafarbene Handtasche ihrer Mutter lagen wie immer auf dem schmiedeeisernen Regal neben der Tür. »Mom?«, rief Clary. »Mom, ich bin’s!«
Es kam keine Antwort. Sie ging weiter ins Wohnzimmer. Beide Fenster standen offen und die langen weißen Vorhänge bauschten sich wie rastlose Geister in der schwülen Brise. Erst als der Wind sich legte und die Vorhänge sich senkten, bemerkte Clary, dass die Sofakissen quer durchs Zimmer geschleudert worden waren. Einige hatte man der Länge nach aufgeschlitzt und ihr Inneres quoll auf den Boden. Die Bücherregale waren umgekippt und ihr Inhalt verstreut. Auch der Klavierhocker lag umgestürzt da. Jocelyns geliebte Notenhefte schienen über den gesamten Boden verteilt zu sein.
Am schlimmsten traf Clary der Anblick der Bilder. Jedes einzelne war aus dem Rahmen getrennt und in Streifen zerfetzt worden, die verstreut auf dem Teppich lagen. Das musste jemand mit einem Messer bewerkstelligt haben, denn mit bloßen Händen ließ sich Leinwand kaum zerreißen. Die leeren Rahmen wirkten wie abgenagte Knochen. Ein Schrei stieg in Clary auf. »Mom!«, schrie sie. »Wo bist du? Mommy!«
Sie hatte Jocelyn seit ihrem achten Lebensjahr nicht mehr »Mommy« genannt.
Mit pochendem Herzen rannte sie in die Küche. Sie war leer und alle Schränke standen offen; aus einer Tabasco-Flasche hatte sich scharfe rote Flüssigkeit quer über das Linoleum ergossen. Clarys Knie wurden butterweich. Sie wusste genau, dass sie eigentlich aus der Wohnung rennen, ein Telefon suchen und die Polizei verständigen sollte. Aber all
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