Chroniken der Unterwelt Bd. 2 City of Ashes
die Leute im Eingang?«
»Nein. Die Wachen waren vorher auch schon da. Sieh mal – auf dem Dach.« Luke zeigte nach oben.
Clary drückte ihr Gesicht gegen die Fensterscheibe. Das Schieferdach der Kathedrale bestand aus einem Meer gotisch anmutender Türme und Zinnen, gemeißelter Engel und bogenförmiger Fensteraussparungen. Clary wollte gerade gereizt erwidern, dass sie außer ein paar zerbröckelnden grotesken Fratzen nichts erkennen könne, als eine plötzliche Bewegung ihre Aufmerksamkeit erregte. Irgendjemand turnte auf dem Dach herum. Eine schlanke dunkle Gestalt, die sich geschickt zwischen den Türmen hindurchbewegte, von einem Dachvorsprung zum nächsten sprang, dann in die Hocke ging und auf eine extrem steil abfallende Dachfläche zusteuerte – jemand mit hellem Haar, das im graublauen Licht des wolkenverhangenen Himmels wie Messing schimmerte …
Jace.
Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, sprang Clary aus dem Wagen und rannte die Straße entlang in Richtung der Kathedrale. Luke rief ihr hinterher, doch sie ignorierte ihn. Das riesige Kirchengebäude türmte sich immer höher vor ihr auf, Meter um Meter, ein Koloss aus Stein. Jace stand nun am Rand des Dachs und schaute hinunter. Er wird doch wohl nicht … dachte Clary entsetzt, das kann er nicht machen … nein, so verrückt ist er nicht … Doch im nächsten Moment trat er einen Schritt vor – in den gähnenden Abgrund hinein, so als würde er von einer Veranda hinabsteigen. Clary schrie laut auf, als Jace wie ein Stein fiel …
Und direkt vor ihr leichtfüßig auf dem Boden landete. Clary starrte ihn mit offenem Mund an, als er aus der Hocke hochkam und sie angrinste. »Wenn ich jetzt einen Witz machen würde, von wegen, ich wollte nur mal kurz vorbeispringen, würdest du mich dann als klischeehaft abschreiben?«, fragte er spöttisch.
»Wie … wie hast du das gemacht? «, flüsterte Clary und hatte das Gefühl, als würde sich ihr gleich der Magen umdrehen. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Luke aus dem Wagen ausgestiegen war, die Hände hinter dem Kopf verschränkt hatte und an ihr vorbeischaute. Sofort wirbelte sie herum. Die beiden Gestalten, die vor dem Portal Wache gehalten hatten, kamen auf sie zugestürzt – bei der einen handelte es sich um Malik und bei der anderen um die Frau mit den silbergrauen Haaren.
»Mist.« Jace packte Clarys Hand und zog sie hinter sich her. Sie rannten zum Pick-up und sprangen Hals über Kopf hinein, während Luke trotz offener Beifahrertür aufs Gaspedal drückte und losfuhr. Jace beugte sich über Clary und riss die Tür zu. Der Wagen schoss an den beiden Schattenjägern vorbei. Clary erkannte, dass Malik etwas in der Hand hielt, das wie ein Wurfmesser aussah, und auf die Reifen zielte. Sie hörte, wie Jace fluchte, während er in seiner Jacke nach einer Waffe suchte. Sie sah, wie Malik den Arm hob, wie die Klinge aufblitzte … und wie die silberhaarige Frau sich ihm in den Rücken warf und nach Maliks Arm griff. Malik versuchte, sie abzuschütteln – Clary drehte sich atemlos auf ihrem Sitz nach hinten –, doch im nächsten Moment schoss der Pick-up um die Ecke und tauchte in den Verkehr auf der York Avenue ein. Und das Institut verlor sich hinter ihnen in der Ferne.
Mit Simons Jacke um die Schultern war Maia, gegen das Leitungsrohr gelehnt, in einen unruhigen Schlaf gefallen. Simon sah zu, wie der Lichtkegel, der durch das Bullauge eindrang, langsam über den Metallboden wanderte, und versuchte vergebens abzuschätzen, wie viele Stunden inzwischen verstrichen waren. Normalerweise nutzte er sein Mobiltelefon, um die Uhrzeit festzustellen, aber das war verschwunden; er hatte schon alle Taschen abgesucht. Es musste ihm aus der Hand gefallen sein, als Valentin in sein Zimmer gestürmt war.
Allerdings hatte er jetzt wirklich größere Probleme als sein verloren gegangenes Telefon. Sein Mund war staubtrocken und seine Kehle brannte. Er hatte Durst, einen solch schrecklichen Durst, als wären sämtliche Durst- und Hungergefühle, die er jemals erlebt hatte, zu einer überwältigenden Folter verschmolzen. Und es wurde immer schlimmer.
Blut – das war es, was er jetzt brauchte. Er dachte an die Blutkonserven in seinem Minikühlschrank am Bett und seine Adern begannen brennend zu schmerzen, wie heiße Silberdrähte unter seiner Haut.
»Simon?« Maia hob erschöpft den Kopf; ihre Wange hatte helle Druckstellen, wo sie gegen die unebene Oberfläche des Leitungsrohrs gelehnt hatte. Während er
Weitere Kostenlose Bücher