Chroniken der Unterwelt Bd. 2 City of Ashes
HÖLLE
Die schon vor mir erschaffnen Dinge waren Nur ewige; und ewig daur’ auch ich.
Lasst, die ihr eingeht, jede Hoffnung fahren.
D ANTE , Die Hölle
8
D ER L ICHTE H OF
In ihrem Traum war Clary wieder ein Kind und lief über den schmalen Strandstreifen in der Nähe der hölzernen Uferpromenade von Coney Island. Die Luft war erfüllt vom Duft nach Hotdogs und gerösteten Erdnüssen und dem fröhlichen Kreischen kleiner Kinder. In der Ferne brandete das Meer; Sonnenlicht glitzerte auf den graublauen Wogen.
Clary konnte sich selbst sehen wie aus großer Entfernung. Sie trug einen überdimensionierten Kinderschlafanzug, dessen zu lange Beine über den Boden schleiften. Feuchter Sand scheuerte zwischen ihren Zehen und ihre Haare hingen ihr schwer im Nacken. Der Himmel war vollkommen wolkenlos und funkelte blau und klar, doch als sie entlang der Flutlinie auf eine Gestalt zulief die sie in der Ferne nur schwach erkennen konnte, fröstelte sie.
Als sie sich ihr näherte, wurde die Gestalt plötzlich klar erkennbar, als hätte Clary die Linse einer Fotokamera darauf eingestellt. Es war ihre Mutter, die in den Ruinen einer Sandburg kniete. Sie trug das weiße Kleid, das Valentin ihr in Renwicks Ruine übergestreift hatte. In der Hand hielt sie ein knorriges Stück Treibholz, das durch den langen Kontakt mit Salz und Wind silbern schimmerte.
»Bist du gekommen, um mir zu helfen?«, fragte ihre Mutter und hob den Kopf. Sie trug ihre langen Haare offen, sodass sie frei im Wind wehten und sie jünger erscheinen ließen. »Es muss noch so vieles getan werden und es bleibt nur wenig Zeit.«
Clary schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. »Mom – ich habe dich vermisst, Mom.«
Jocelyn lächelte. »Ich habe dich auch vermisst, Süße. Aber ich bin nicht fort … ich liege nur in einem tiefen Schlaf.«
»Und wie soll ich dich dann aufwecken?« , schluchzte Clary, doch ihre Mutter schaute mit besorgtem Gesicht hinaus aufs Meer. Der Himmel hatte nun eine zwielichtige eisengraue Tönung angenommen und schwarze Wolken türmten sich wie massive Felsen auf.
»Komm mal her« , sagte Jocelyn. Und als Clary vor ihr stand, fügte sie hinzu: »Gib mir deinen Arm.«
Clary streckte ihren Arm aus. Jocelyn führte das Treibholz über ihre Haut. Die Berührung brannte wie die Spitze einer Stele und hinterließ eine dicke schwarze Linie. Die Rune, die Jocelyn zeichnete, besaß eine Form, die Clary noch nie zuvor gesehen hatte; doch sofort breitete sich ein Gefühl der Ruhe in ihr aus. »Was bewirkt diese Rune?«
»Sie soll dich schützen.« Clarys Mutter gab ihren Arm frei.
»Wovor?«
Doch Jocelyn antwortete ihr nicht und schaute nur hinaus aufs Meer. Clary drehte sich um und sah, dass sich der Ozean sehr weit zurückgezogen und schlammige Lachen mit Müll, Algen und verzweifelt hüpfenden Fischen zurückgelassen hatte. Das Wasser hatte sich zu einer riesigen Woge aufgetürmt, die wie ein Berghang steiler und steiler wurde und lawinenartig herabzustürzen drohte. Das Lachen der Kinder auf der Promenade verwandelte sich in Schreie. Während Clary entsetzt zusah, erkannte sie, dass die Bruchkante der Woge transparent wie eine Membran war und dass sich dahinter Gestalten bewegten, riesige dunkle, formlose Gestalten, die gegen die Wasseroberfläche drückten. Panisch riss sie die Arme hoch …
Und erwachte keuchend und mit wild schlagendem Herzen. Sie lag im Gästebett in Lukes Wohnung und das Licht der Nachmittagssonne fiel schwach durch die Vorhänge. Die Haare klebten ihr schweißfeucht im Nacken und ihr Arm schmerzte und brannte. Als sie sich aufsetzte und die Lampe auf dem Nachttisch einschaltete, stellte sie fest, dass sich eine schwarze Rune über ihren gesamten Unterarm erstreckte. Es überraschte sie nicht.
Sie ging in die Küche, wo Luke ihr ein Plunderstückchen in einem Karton hingestellt hatte, der mit Fettspritzern übersät war. Außerdem hing eine Nachricht am Kühlschrank: Bin zum Krankenhaus gefahren.
Clary aß das Gebäck auf dem Weg zu ihrem Treffpunkt mit Simon. Sie hatten verabredet, dass er um fünf an der Ecke der Bedford Avenue bei der Haltestelle der Linie F auf sie warten würde, doch er war nicht da. Clary spürte ein leichtes Unbehagen, ehe sie sich an den Secondhand-Plattenladen an der Ecke zur 6th Street erinnerte. Und natürlich fand sie Simon dort: Er durchstöberte gerade einen der CD-Ständer mit den Neuerwerbungen. Unter seiner rostroten Cordjacke mit den eingerissenen Ärmeln trug
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