Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
Luke noch lebte und zum Anführer eines Werwolfrudels im Brocelind-Wald aufgestiegen war, in der Nähe der Ostgrenze. Nachdem ich die Nachricht gelesen hatte, habe ich sie vernichtet. Denn ich wusste, dass Valentin niemals davon erfahren durfte. Allerdings musste ich erst noch zum Lager der Werwölfe reisen und Luke mit eigenen Augen sehen, bis ich begriff, dass Valentin mich belegen hatte, dass er Lukes Selbstmord mir gegenüber nur vorgetäuscht hatte. Und das war der Moment, in dem ich Valentin zu hassen begann.«
»Aber Luke hat erzählt, du hättest gewusst, dass mit Valentin irgendetwas nicht stimmte - dass erirgendwelche schrecklichen Dinge durchführte. Er sagte, du hättest davon gewusst, noch bevor er sich in einen Werwolf verwandelte.«
Jocelyn schwieg einen Moment. »Weißt du«, fuhr sie schließlich fort, »eigentlich hätte Luke nicht gebissen werden dürfen. Das hätte niemals passieren dürfen. Es war doch nur eine Routinepatrouille in den Wäldern … er war mit Valentin unterwegs … es hätte wirklich nicht passieren dürfen.«
»Mom …«
»Luke hat recht: Offenbar habe ich ihm noch vor seiner Verwandlung erzählt, dass ich mich vor Valentin fürchtete … dass ich nachts Schreie hören konnte, die durch die Mauern des Landhauses zu dringen schienen … dass ich einen Verdacht hegte, einen schlimmen Verdacht. Und Luke - treuer, vertrauensseliger Luke - sprach Valentin am nächsten Tag direkt darauf an. In jener Nacht nahm Valentin Luke mit auf dieJagd, während der er gebissen wurde. Ich glaube … ich glaube, Valentin hat mir etwas gegeben, das mich alles vergessen ließ, was ich gesehen hatte, alles, wovor ich mich fürchtete. Er hat mir eingeredet, dass es sich nur um einen schlechten Traum gehandelt hätte. Und ich glaube außerdem, dass er dafür gesorgt hat, dass Luke in jener Nacht gebissen wurde. Ich denke, er wollte Luke aus dem Weg schaffen, damit niemand mich daran erinnern konnte, dass ich mich vor meinem eigenen Ehemann fürchtete. Aber das habe ich nicht erkannt, jedenfalls nicht sofort. An dem Tag, an dem ich Ragnor Fells Nachricht erhalten hatte, haben Luke und ich uns nur kurz gesehen. Eigentlich wollte ich ihm unbedingt von Jonathan erzählen, aber ich habe es nicht fertiggebracht, ich konnte es einfach nicht. Jonathan war mein Sohn. Trotzdem hat mich die Begegnung mit Luke - das Wissen, dass er noch lebte - stärker gemacht. Ich ritt nach Hause in der festen Absicht, mir mehr Mühe mit Jonathan zu geben und ihn lieben zu lernen. Mich dazu zu überwinden, ihn zu lieben.
In jener Nacht wurde ich vom Weinen eines Babys geweckt. Ruckartig fuhr ich hoch. Ich war allein im Haus - Valentin war fort, zu einer Versammlung des Kreises -, daher konnte ich meine Verwunderung mit niemandem teilen.
Du musst wissen, dass Jonathan nie geweint oder auch nur das geringste Geräusch von sich gegeben hat. Sein Schweigen zählte zu den Dingen, die mich am meisten an ihm erschreckten. Atemlos rannte ich durch den Flur zu seinem Zimmer, aber er schlief tief und fest und völlig still. Trotzdem konnte ich ein Kind weinen hören, da war ich mir absolut sicher. Ich lief die Treppe hinunter, folgte den schluchzenden Babygeräuschen. Sie schienen aus dem leeren Weinkeller zu kommen, dessen Tür jedoch verriegelt war, da wir den Raum nicht nutzten. Aber schließlich war ich in dem Landhaus aufgewachsen - ich wusste, wo mein Vater den Schlüssel versteckte…«
Während Jocelyn erzählte, starrte sie gedankenverloren geradeaus, als wäre sie vollkommen in ihre Erinnerungen versunken.
»Als du klein warst, habe ich dir nie die Geschichte von König Blaubart und seiner Frau vorgelesen, oder? Darin untersagt der König seiner Frau, einen Blick in einen verschlossenen Raum zu werfen; doch die Frau ignoriert das Verbot und stößt in dem Raum auf die Überreste sämtlicher früherer Frauen ihres Mannes, die dieser ermordet und wie Schmetterlinge in einer Vitrine ausgestellt hat. Ich selbst hatte keine Ahnung, was mich hinter der verriegelten Weinkellertür erwarten würde. Wenn man mich heute fragt, ob ich das noch mal tun würde … ob ich noch mal in der Lage wäre, die Tür zu öffnen und mich von meinem Elbenlicht durch die Dunkelheit führen zu lassen, dann wüsste ich darauf keine Antwort, Clary. Ich wüsste es wirklich nicht.
Als Erstes schlug mir der Geruch entgegen, ein grässlicher Geruch nach Blut und Verderben und Tod. Valentin hatte unter dem Weinkeller eine tiefe
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