Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
einmal einen Vogel sterben sehen, ohne gleich loszuheulen. Kein Wunder, dass Valentin sich deinetwegen schämte.«
»Nein.« Jace vergaß das Blut in seinem Mund, vergaß die Schmerzen. »Du bist derjenige, dessen er sich geschämt hat. Du glaubst, er hätte dich nicht mit zum See genommen, weil er dich hier brauchte, damit du um Mitternacht das Tor öffnest? Als ob er nicht gewusst hätte, dass du nicht so lange abwarten konntest! Er hat dich nicht mitgenommen, weil er sich geschämt hätte, vor den Engel treten und ihm zeigen zu müssen, was er erschaffen hat - ihm das Ding zu zeigen, das er erschaffen hat. Dich zu zeigen.« Jace blickte Sebastian ins Gesicht und spürte, wie Mitleid in seinen Augen aufflackerte - schrecklich und triumphierend zugleich. »Er wusste, dass in dir nichts Menschliches steckt. Vielleicht liebt er dich, aber er hasst dich auch …«
»Halt ‘s Maul!«, knurrte Sebastian, drückte den Dolch abwärts und drehte dabei das Heft. Mit einem Schrei bog Jace den Rücken durch, während unerträgliche Schmerzen wieBlitze durch seinen Körper zuckten. Ich werde sterben, dachte er. Ich sterbe. Es ist so weit. Er fragte sich, ob sein Herz bereits durchbohrt war. Er konnte sich nicht mehr bewegen, nicht mehr atmen. Jetzt wusste er, wie sich ein Schmetterling fühlen musste, den man auf eine Tafel aufspießte. Er versuchte, zu sprechen, einen Namen zu sagen, aber aus seinem Mund kam nur noch Blut.
Und doch schien Sebastian es in seinen Augen zu lesen. »Clary. Das hätte ich ja beinahe vergessen. Du liebst sie, nicht wahr? Die Scham über deine hässlichen inzestuösen Lustgefühle muss dich fast umgebracht haben. Zu schade, dass du nicht wusstest, dass sie gar nicht deine Schwester ist. Du hättest den Rest deines Lebens mit ihr verbringen können, wenn du nur nicht so dumm gewesen wärst.« Bewusst langsam beugte er sich weiter vor und drückte die Klinge noch fester abwärts, bis ihre Spitze auf Knochen traf. »Und sie hat dich ebenfalls geliebt«, flüsterte er Jace leise ins Ohr. »Denk daran, während du stirbst.«
Dunkelheit umflutete Jace’ Blick - wie Tinte, die sich über ein Foto ergießt und das Bild verdeckt. Plötzlich spürte er keinen Schmerz mehr. Er spürte überhaupt nichts mehr, nicht einmal Sebastians Gewicht auf seinem Körper und es kam ihm so vor, als ob er schweben würde. Sebastians Gesicht leuchtete irgendwo über ihm, weiß vor der aufkommenden Dunkelheit, den Dolch hoch erhoben. Irgendetwas Goldglänzendes schimmerte an seinem Handgelenk, als würde er ein Armband tragen. Doch es konnte kein Armband sein, schoss es Jace durch den Kopf, denn es bewegte sich. Überrascht schaute Sebastian auf seine Hand, während der Dolch ihm aus den nungeöffneten Fingern glitt und mit einem hörbaren Klatschen im Schlamm auftraf.
Und dann fiel seine Hand, am Handgelenk abgetrennt, neben dem Dolch zu Boden.
Staunend beobachtete Jace, wie Sebastians abgeschnittene Hand über den Boden rollte und schließlich neben einem Paar hoher schwarzer Stiefel liegen blieb. In diesen Stiefeln steckte ein Paar zierlicher Beine, die in einen schlanken Körper übergingen und zu einem vertrauten Gesicht gehörten, eingerahmt von einer Flut schwarzer Haare. Mühsam schaute Jace hoch und sah Isabelle, die mit blutverschmierter Peitsche Sebastian musterte - der seinerseits mit vor Verblüffung offenem Mund auf seinen blutigen Armstumpf starrte.
»Das war für Max, du Dreckskerl«, stieß Isabelle mit grimmigem Lächeln hervor.
»Du Miststück«, zischte Sebastian und sprang auf die Füße, während Isabelles Peitsche mit unglaublichem Tempo erneut auf ihn niedersauste, doch er wich ihr aus und war im nächsten Moment verschwunden. Jace hörte ein Rascheln - wahrscheinlich war Sebastian in die Büsche geflohen. Aber es hätte ihn zu viel Kraft gekostet, den Kopf zu heben und ihm nachzusehen.
»Jace!« Isabelle kniete sich neben ihn, eine schimmernde Stele in der Linken. Tränen glänzten in ihren Augen. Wenn Isabelle mich so anschaut, dachte Jace, muss ich wohl ziemlich übel dran sein.
»Isabelle«, versuchte er zu sagen. Er wollte sie anflehen, zu verschwinden, davonzulaufen. Denn so großartig und mutig und talentiert sie auch sein mochte - und daran bestand überhaupt kein Zweifel -, hatte sie letztlich nicht die geringste Chance gegen Sebastian; und Sebastian würde sich niemals von einem kleinen Rückschlag wie einer abgetrennten Hand aufhalten lassen.
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