Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
nicht ähnelte … denn schließlich war ihre Mutter wunderschön - und sie kein bisschen. Doch die Jocelyn, die Amatis gekannt hatte, war die junge Frau gewesen, die alles daran gesetzt hatte, Valentin zu Fall zu bringen - jene Frau, die insgeheim eine Allianz zwischen Schattenjägern und Schattenweltlern geschmiedet, den Kreis zerstört und das Abkommen gerettet hatte. Jene Jocelyn hätte sich niemals damit einverstanden erklärt, still im Haus zu sitzen und abzuwarten, während um sie herum ihre Welt in tausend Stücke zerbrach.
Ohne auch nur eine Sekunde länger nachzudenken, marschierte Clary zur Zimmertür und schob den Riegel vor. Anschließend ging sie zum Fenster, drückte es auf und schaute hinaus. Das Rosenspalier erstreckte sich über die gesamte Hauswand wie eine … wie eine Leiter, dachte Clary. Genau wie eine Leiter - und Leitern kann man gefahrlos besteigen.
Clary holte tief Luft und kletterte dann hinaus auf das Fenstersims.
Die Wachen kehrten am nächsten Morgen zurück und rüttelten Simon aus einem ohnehin unruhigen Schlaf, der mit seltsamen Träumen gespickt war. Dieses Mal stülpten sie ihm jedoch keine Kapuze über den Kopf, während sie ihn zur Treppe führten, sodass Simon rasch durch die Gittertür der Nachbarzelle schauen konnte. Doch seine Hoffnung, einen Blick auf den Besitzer der heiseren Stimme werfen zu können, der ihn am Abend zuvor angesprochen hatte, wurde enttäuscht: Außer einem Bündel, das aussah wie ein Haufen alter Lumpen, war nichts zu erkennen.
Ungeduldig scheuchten die Wachen ihn durch eine Reihe grauer Flure und stießen ihn unsanft in den Rücken, wenn er zu lange in eine bestimmte Richtung schaute. Schließlich gelangten sie in einen Raum mit prächtigen Tapeten an den Wänden, an denen etliche Porträts von Frauen und Männern in Schattenjägerkleidung hingen. Unter einem der größten Gemälde, dessen Rahmen mit kunstvollen Runen verziert war, stand ein rotes Sofa, auf dem der Inquisitor saß. Er hielt einen Silberpokal in der Hand, den er Simon entgegenstreckte. »Etwas Blut gefällig?«, fragte er. »Du müsstest inzwischen ziemlich hungrig sein.«
Als der Inquisitor den Pokal in Simons Richtung neigte, konnte der Junge einen Blick hineinwerfen und der Anblick und der Geruch des Bluts versetzten ihm einen elektrisierenden Schlag. Er spürte, wie seine Adern sich anspannten wie Drähte einer Marionette in den Händen eines Puppenspielers - ein unangenehmes, beinahe schmerzhaftes Gefühl. »Ist das … von einem Menschen?«
Aldertree kicherte. »Aber, aber! Wo denkst du hin? Das ist Hirschblut. Frisch gezapft.«
Simon schwieg. Er fühlte, dass seine Eckzähne aus den Scheiden geglitten waren und seine Unterlippe angeritzt hatten; und dann schmeckte er sein eigenes Blut im Mund. Der Geschmack bereitete ihm Übelkeit.
Aldertree verzog das Gesicht, bis es einer vertrockneten Pflaume ähnelte. »Oje.« Dann wandte er sich an die Wachen: »Lassen Sie uns nun allein, Gentlemen.« Daraufhin machten die Männer auf dem Ansatz kehrt und gingen. Nur der Konsul blieb noch einen Moment in der Tür stehen und warf Simon einen unmissverständlich angewiderten Blick zu.
»Nein, danke«, sagte Simon; seine Stimme klang durch die hervorbrechenden Eckzähne gedämpft. »Ich will kein Blut.«
»Deine Zähne sagen aber etwas ganz anderes, mein lieber Junge«, erwiderte Aldertree leutselig. »Hier. Nimm einen Schluck.« Erneut hielt er Simon den Pokal entgegen und der Geruch des Bluts wehte durch den Raum wie der Duft von Gartenrosen in der Abenddämmerung.
Ruckartig schössen Simons Schneidezähne nach unten, fuhren sich vollständig aus und bohrten sich nun noch tiefer in seine Unterlippe. Der intensive Schmerz traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Beinahe willenlos machte er einen Schritt nach vorn und riss dem Inquisitor den Pokal förmlich aus den Händen. Gierig leerte er ihn mit drei Schlucken. Als ihm bewusst wurde, was er getan hatte, stellte er das Gefäß mit zitternder Hand auf der Lehne des Sofas ab. Ein Punkt für den Inquisitor, dachte er. Null für mich.
»Ich hoffe doch, deine Nacht im Zellentrakt war nicht allzu unangenehm? Die Zellen sind keineswegs als Folterkammern gedacht, mein Junge, eher eine Art Raum auferlegter Besinnung. Ich bin ja immer der Meinung, dass Besinnung den Geist fokussiert, findest du nicht auch? Und das ist unerlässlich, wenn man einen klaren Gedanken fassen will. Ich hoffe doch sehr, dass du zum Nachdenken angeregt
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