Chroniken der Unterwelt Bd. 4 City of fallen Angels
sie einmal einen Aufsatz darüber verfasst und eine hervorragende Note dafür erhalten. Die meisten Sekten beteten Dämonen an, die sie sich eingebildet oder erfunden hatten. Manchen gelang es zwar, kleine, unbedeutende Dämonen heraufzubeschwören, die die Sektenmitglieder entweder umgehend töteten oder sich damit begnügten, sich von diesen bedienen zu lassen, ohne wirklich eine Gegenleistung zu erbringen. Aber Isabelle hatte noch nie von einer Sekte gehört, die einen Dämonenfürsten anbetete und den betreffenden Dämon tatsächlich jemals zu Gesicht bekommen hätte. Ganz zu schweigen von einer so mächtigen Dämonenfürstin wie Lilith, der Mutter aller Hexenwesen. »Du hast dich in ihrer Gegenwart aufgehalten?«
Die Frau riss kurz die halb geschlossenen Lider auf. »Ja. Mit ihrem Blut in meinen Adern kann ich spüren, wenn sie in der Nähe ist. So wie jetzt auch.«
Isabelle zuckte zusammen und ihre Hand fuhr ruckartig zu ihrem roten Anhänger. Der Rubin hatte seit Betreten des Gebäudes immer wieder pulsiert und sie hatte als Ursache dafür das Dämonenblut der toten Säuglinge angenommen. Aber die Gegenwart eines Dämonenfürsten ergab natürlich noch viel mehr Sinn. »Sie ist hier? Wo ist sie?«, hakte Isabelle nach.
Die Frau hatte die Augen geschlossen und schien einzuschlummern. »Oben«, murmelte sie vage. »Zusammen mit dem Vampirjungen. Der, der am Tag wandeln kann. Sie hat uns ausgesandt, um ihn zu holen, aber er war geschützt. Wir konnten keine Hand an ihn legen. Alle, die gesandt wurden, ihn zu finden, starben. Doch dann kehrte Bruder Adam eines Tages zurück und erzählte uns, dass der junge durch Heiliges Feuer geschützt sei. Und das hat Lady Lilith so zornig gemacht, dass sie Adam noch an Ort und Stelle zerschmetterte. Er hatte Glück, so viel Glück, dass er von ihrer Hand sterben durfte.« Ihr Atem ging schwer und rasselnd. »Aber sie ist schlau. Lady Lilith. Sie fand einen anderen Weg, den Jungen herzubringen …«
Isabelle fiel die Peitsche aus der plötzlich erschlafften Hand. »Simon? Sie hat Simon hierhergebracht? Wieso?«
»›Alle, die zu ihr eingehen …‹«, flüsterte die Frau, »›kehren nicht wieder …‹«
Zitternd sank Isabelle auf die Knie und griff nach ihrer Peitsche. »Lass das«, befahl sie mit bebender Stimme. »Hör auf, hier herumzujammern, und sag mir lieber, wo er ist. Wohin hat sie ihn gebracht? Wo ist Simon? Entweder du sagst es mir jetzt sofort oder ich …«
»Isabelle«, unterbrach Alec sie ernst. »Izzy, es hat keinen Zweck mehr. Sie ist tot.«
Ungläubig starrte Isabelle auf die Frau. Offenbar war sie von einem Atemzug auf den nächsten gestorben. Mit weit aufgerissenen Augen und erschlafften Gesichtszügen lag sie reglos da. Trotz des ausgemergelten Körpers, des rasierten Schädels und der von Flecken übersäten Haut konnte Isabelle erkennen, dass die Frau noch sehr jung gewesen sein musste, vermutlich kaum älter als zwanzig. »Verdammt!«, stieß Isabelle aufgebracht hervor.
»Ich versteh das nicht«, wand Alec ein. »Was kann ein Dämonenfürst denn von Simon wollen? Er ist ein Vampir. Zugegeben, ein sehr mächtiger Vampir, aber …«
»Das Kainsmal«, sagte Isabelle geistesabwesend. »Das hier muss irgendetwas mit diesem Mal zu tun haben. Es kann gar nicht anders sein.« Sie marschierte zum Aufzug und drückte auf den Knopf. »Wenn Lilith wirklich Adams erste Frau war und Kain Adams Sohn, dann ist das Kainsmal fast so alt wie sie.«
»Wo willst du hin?«
»Die Frau hat gesagt, Lilith und Simon wären ›oben‹«, erwiderte Isabelle. »Also werde ich jedes einzelne Stockwerk durchsuchen, bis ich ihn gefunden habe.«
»Sie kann ihm nichts antun, Izzy«, bemerkte Alec in jenem beherrscht-vernünftigen Tonfall, den Isabelle so verabscheute. »Ich weiß, dass du dir Sorgen machst, aber er trägt das Kainsmal. Er ist unantastbar. Nicht einmal ein Dämonenfürst kann ihn verletzen. Niemand kann das.«
Doch Isabelle musterte ihren Bruder finster. »Und wozu, glaubst du, wollte sie ihn dann in die Finger bekommen? Damit sie jemanden hat, der für sie tagsüber die Kleider aus der Reinigung holt? Also wirklich, Alec …«
Im nächsten Moment ertönte ein dezentes Ping und der Pfeil über dem letzten Aufzug in der Reihe leuchtete auf. Isabelle setzte sich in Bewegung, während sich gleichzeitig die Aufzugstür öffnete. Licht strömte in den Vorraum … und mit dem Licht eine Welle von Männern und Frauen, kahl geschoren, ausgemergelt und mit grauen
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