Chroniken der Unterwelt Bd. 4 City of fallen Angels
»Ich habe eine ganz andere Geschichte gehört: Camille soll sich auf unbestimmte Zeit von der Führung des Clans beurlaubt und Raphael zu ihrem zeitweiligen Stellvertreter ernannt haben. Das war vor ein paar Jahren. Wenn sie ihn als ihren Vize ausgesucht hat, warum sollte sie sich nun gegen ihn wenden?«
Simon zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich kann nur das wiederholen, was sie mir erzählt hat.«
»Warum hast du uns nicht schon vorher von ihrem Angebot berichtet, Simon?«, fragte Luke sehr leise.
»Sie hat mich gebeten, ich solle niemandem davon erzählen.« Simon wurde bewusst, wie dumm das klang. »Einer Vampirin wie ihr bin ich noch nie begegnet«, fügte er hinzu. »Ich kannte bisher nur Raphael und die anderen aus dem Hotel Dumont. Es lässt sich schwer erklären, was das Besondere an ihr ist: Egal was sie sagt, man will es einfach glauben. Und auch alles tun, was sie verlangt. Ich wollte es ihr unbedingt recht machen, obwohl ich wusste, dass sie mich nur zum Narren hält.«
Der Typ mit dem Verkaufswagen kam erneut an ihnen vorbei und Luke besorgte sich einen Kaffee und einen Bagel, ehe er sich auf dem Rand des Brunnens niederließ.
Simon folgte ihm nach einem kurzen Moment.
»Der Mann, der mir Camilles Namen gab, bezeichnete sie als ›Die Ewige‹«, erzählte Luke. »Ich denke, sie ist eine der wenigen wirklich sehr, sehr alten Vampire auf diesem Planeten. Und ich kann mir gut vorstellen, dass sich die meisten Leute in ihrer Gegenwart plötzlich ganz klein fühlen.«
»Sie hat mir das Gefühl gegeben, ich wäre ein Wurm«, räumte Simon ein. »Aber sie hat versprochen, wenn ich nach fünf Tagen Bedenkzeit wirklich nicht für sie arbeiten wolle, würde sie mich nie wieder belästigen. Also hab ich ihr gesagt, dass ich darüber nachdenken werde.«
»Und, hast du darüber nachgedacht?«
»Wenn sie irgendwelche Schattenjäger umbringt, will ich nichts mit ihr zu tun haben«, erklärte Simon. »So viel kann ich dir verraten.«
»Das wird Maryse sicher freuen zu hören.«
»Jetzt machst du dich über mich lustig.«
»Nein, tue ich nicht«, widersprach Luke mit ernster Miene. Es waren genau diese Momente, in denen Simon das alte Bild, das er von Luke im Kopf hatte — Clarys Beinahe-Stiefvater, der immer zur Stelle war, wenn man ihn brauchte, der einen an der Schule abholte und nach Hause brachte oder einem zehn Dollar für ein Buch oder eine Kinokarte pumpte —, beiseiteschieben konnte. Denn in diesem Augenblick wurde ihm wieder bewusst, dass Luke das größte Werwolfrudel der Stadt anführte und dass er jemand war, auf dessen Rat in Krisensituationen die gesamte Gemeinschaft der Nephilim gehört hatte. »Du vergisst, wer du bist, Simon. Du vergisst, welche Kräfte du besitzt«, fügte Luke hinzu.
»Ich wünschte, ich könnte es vergessen«, erwiderte Simon bitter. »Ich wünschte, dass diese Macht, wenn ich sie einfach nicht nutze, irgendwann verschwinden würde.«
Bedauernd schüttelte Luke den Kopf. »Macht ist wie ein Magnet. Sie zieht diejenigen an, die sie begehren. Camille ist nur eine von vielen, die noch folgen werden. Im Grunde können wir sogar froh sein, dass es so lange gedauert hat, bis die ersten aufgetaucht sind.« Er musterte Simon. »Meinst du, es wäre dir möglich, mich oder die Division zu verständigen, falls sie dich wieder herbeizitiert? Und uns dann mitzuteilen, wo wir sie finden können?«
»Ja«, sagte Simon gedehnt. »Sie hat mir einen Weg aufgezeigt, um Kontakt mit ihr aufzunehmen. Aber es ist nicht so, als ob sie einfach erscheinen würde, sobald ich in eine magische Trillerpfeife blase. Beim letzten Mal hat sie ihre Lakaien geschickt, die mich abgefangen und dann zu ihr gebracht haben. Also wird es nichts nutzen, mich die ganze Zeit zu beschatten, während ich sie kontaktiere. Denn dann bekommt ihr nur ihre menschlichen Domestiken in die Finger, nicht aber sie selbst.«
»Hm.« Luke zog eine nachdenkliche Miene. »Dann werden wir uns irgendeinen schlauen Plan überlegen müssen.«
»Ja, und zwar schnell. Sie hat mir fünf Tage Bedenkzeit gegeben, was bedeutet, dass sie morgen bestimmt eine Antwort von mir erwartet.«
»Das kann ich mir gut vorstellen«, sagte Luke. »Genau genommen rechne ich sogar fest damit.«
Vorsichtig öffnete Simon die Wohnungstür von Kyles Apartment. »Hallo?«, rief er, während er den Flur betrat und seine Jacke aufhängte. »Jemand zu Hause?«
Er erhielt keine Antwort, aber aus dem Wohnzimmer drangen die vertrauten
Weitere Kostenlose Bücher