Chroniken der Weltensucher 01 - Die Stadt der Regenfresser
ihnen die Tür. Einer nach dem anderen stiegen sie aus und gingen über den weißen Kies auf die Freitreppe vor dem Eingang. »Ich glaube, wir lassen Wilma besser draußen im Garten«, entschied Humboldt kurz entschlossen. »Nichts wäre peinlicher, als wenn sie im Haus des Gouverneurs ihr Geschäft verrichtete. Außerdem hat sie hier Gesellschaft.« Er setzte den kleinen Vogel auf den Boden und gab ihm einen Schubs. »Nun lauf schon zu den anderen«, sagte er. »Wir sind ja bald wieder da.«
Der Kiwi blickte sie der Reihe nach an, pickte ein paar Krumen vom Boden, dann trollte er sich in Richtung einer Gruppe von Pfauen.
»Scheint, als wäre sie lieber mitgekommen«, sagte Oskar. »Hoffentlich ist sie uns nicht allzu böse.«
»Die fängt sich schon wieder«, sagte Humboldt. »Wenn sie beleidigt ist, hält das nie lange an.«
»Darf ich bitten?«, schnurrte Alfonso, der sie an der geöffneten Tür erwartete. »Seine Exzellenz erwartet Sie bereits.«
Sie betraten das prächtige Herrenhaus, Humboldt und Eliza vorneweg, Charlotte und Oskar hinterher. Während die Gruppe über breite Treppen und kostbar gewebte Teppiche in den ersten Stock schritt, kam Oskar aus dem Staunen nicht mehr heraus. Humboldts Haus war für ihn bisher das Maß für Wohlstand und Reichtum gewesen, doch er sah bald ein, dass er umdenken musste. Hier herrschte ein Prunk, der mit Worten kaum noch zu beschreiben war. Vasen, Spiegel, Kristallleuchter – es war ein Funkeln und Glitzern wie in einer Drachenhöhle. Ein tiefes Gefühl des Unbehagens überfiel ihn. »Du hattest recht«, flüsterte er in Charlottes Richtung. »Ich habe auch kein gutes Gefühl bei der Sache.«
»Verstehst du jetzt, was ich meine?« Auf Charlottes Wangen lag Zornesröte. Ihre Lippen waren zusammengepresst und aus ihren Augen sprühten Funken. Oskar konnte sich nicht erinnern, sie jemals so wütend gesehen zu haben.
»Was muss das nur für ein Mensch sein, der hier in Saus und Braus lebt, während sein Volk hungert? Ich würde ihm gerne mal meine Meinung sagen«, zischte sie.
»Du wirst nichts dergleichen tun«, flüsterte Humboldt, der ihr Gespräch offensichtlich belauscht hatte. »Haltet euch zurück und überlasst mir das Reden, verstanden?«
Alfonso, der bereits einige Schritte vorausgelaufen war, öffnete die zweiflügelige Tür zum Arbeitszimmer des Gouverneurs, stellte sich an den Eingang und winkte sie heran. »Kommen Sie, meine Herrschaften, kommen Sie. Sie werden erwartet.«
Sie gingen an ihm vorbei in den Saal und blieben stehen. Auf der anderen Seite stand ein kleiner untersetzter Mann am Fenster und blickte gedankenverloren hinaus in den Garten.
»Exzellenz, Ihre Gäste sind eingetroffen. Meine Damen und Herren, Señor Alvarez.«
Der Mann drehte sich um und musterte die Neuankömmlinge. Dann gab er Alfonso zu verstehen, dass seine Dienste nicht länger vonnöten waren, und kam gemessenen Schrittes auf seine Gäste zu. Der Diener verbeugte sich, trat rückwärts durch die Tür und schloss sie hinter den Reisenden.
»Kommen Sie, kommen Sie. Treten Sie näher.«
Oskar konnte erkennen, dass der Gouverneur eine Reitgerte unter den Arm geklemmt hatte.
»Welch eine Freude und Ehre, den Sohn des großen Alexander von Humboldt in meinem bescheidenen Heim zu begrüßen.«
»Die Ehre ist ganz meinerseits«, erwiderte der Forscher.
»Hatten Sie eine angenehme Fahrt? Sie müssen mir unbedingt von Berlin erzählen.« Der Gouverneur strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich hatte vor Jahren einmal das Vergnügen, in Ihrer wunderbaren Stadt weilen zu dürfen. Beeindruckend, höchst beeindruckend. Doch jetzt müssen Sie mich mit Ihrer reizenden Begleitung bekannt machen.« Seine Stimme schnurrte und surrte wie ein kleines Uhrwerk und er bedeckte die Hände der beiden Frauen mit Küssen. Eine Geste, die in ihrer übertriebenen Höflichkeit schon beinahe grotesk wirkte.
Oskar nahm ihren Gastgeber genauer in Augenschein. Alvarez maß vielleicht eins fünfundfünfzig und war von außerordentlicher Leibesfülle. Er steckte in einem schwarzen Anzug, der ihm viel zu eng war. Am Hals und an den Handgelenken quollen Fettpolster heraus, während die Knöpfe seiner Weste jeden Moment abzuspringen drohten. Seine Haare waren schweißgetränkt und in einer merkwürdig gezwirbelten Frisur am Kopf festgeklebt. Wäre da nicht der viel zu große Schnurrbart gewesen, man hätte ihn für einen dicken Bruder von Napoleon Bonaparte halten können.
Schwer atmend beendete
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