Chroniken der Weltensucher 02 - Der Palast des Poseidon
hochgesteckt, die mit Bändern zusammengehalten wurde, was ihr das Aussehen einer Tänzerin aus Tausendundeiner Nacht verlieh.
»Theresa von Hepp«, las Charlotte, als sie die Aufnahme umdrehte. »Eine Autogrammkarte, anlässlich der Premiere von Indigo und die vierzig Räuber.«
»Auf den Plakaten steht auch überall ihr Name«, sagte Oskar. »Humboldt muss sie wohl sehr gemocht haben.«
»Eine schöne Frau«, bemerkte Charlotte. »Vielleicht hat mein Onkel mal eine Affäre mit ihr gehabt.« Sie lächelte. »Ob ich ihn mal fragen soll?«
»Lieber nicht«, erwiderte Oskar. »Er kann sehr jähzornig werden, wenn man seine Nase in seine privaten Dinge steckt.«
»Stimmt«, räumte Charlotte ein. »Eine Liebschaft würde aber erklären, warum er sich plötzlich so für die schönen Künste interessiert. Er kann nämlich mit Kunst und Musik gemeinhin recht wenig anfangen.«
»Die Plakate und Fotos sind alle schon etwas älter«, murmelte Oskar. »Weißt du, ob er früher mal in Wien gelebt hat?«
Charlotte schüttelte den Kopf. »Er ist viel gereist, aber in unserer Familie wurde nie darüber gesprochen. Mutter und er haben deswegen bis auf den heutigen Tag ein gespanntes Verhältnis.«
»Warum eigentlich?«
Charlotte zuckte die Schultern. »Angeblich, weil er fortgegangen ist, anstatt sich um die familiären Angelegenheiten zu kümmern. Meine Mutter wirft ihm vor, er hätte sie und Oma im Stich gelassen. Die beiden haben eine Weile zusammengelebt, ehe meine Großmutter starb – wahrscheinlich an der Lungenepidemie von 1882. Als Humboldt von seinen Reisen zurückkam, war sie jedenfalls tot und meine Mutter fortgezogen.«
»Hm.« Oskar war nicht wohl dabei, in Humboldts privaten Sachen herumzuwühlen. Er konnte sich auch nicht erklären, was das alles mit ihnen zu tun hatte. Er wollte so schnell wie möglich die Koffer holen und dann von hier verschwinden.
»Also ich kann nichts finden«, sagte er. »Bist du sicher, dass Eliza diese Kiste gemeint hat?«
»Siehst du irgendwo noch eine andere? Außerdem hat der Schlüssel gepasst. Komm, lass uns weitersuchen!« Sie fing an, die Requisiten auszuräumen und sorgfältig auf dem Boden zu stapeln.
Es dauerte eine Weile, bis sie die Truhe leer geräumt hatten. Als sie endlich so weit waren, machte sich Ernüchterung breit. Unten war nur ein einfacher Boden, sonst nichts. Keine Klappe, kein Scharnier.
Oskar klopfte gegen das Holz. »Seltsam«, murmelte er.
»Was meinst du?«
»Ich frage mich …« Er betrachtete die Kiste von der Seite.
»Was ist denn los?«
»Ich glaube, dass da irgendwo noch ein Zwischenfach eingearbeitet ist. Sieh mal: Für einen einfachen Boden ist der viel zu dick.«
Charlotte hielt die Finger neben die Truhe und spreizte sie auf einen Abstand von zehn Zentimetern. »Du hast recht«, sagte sie. »Da ist ein doppelter Boden drin. Vielleicht gibt es hier ja irgendwo einen versteckten Hebel oder Knopf.«
Sie hatten gerade angefangen, danach zu suchen, als es an der Luke, durch die sie gekommen waren, scharrte und klopfte. »Hallo? Ist da jemand?«
Es war Humboldt!
Die beiden Jugendlichen warfen sich einen entgeisterten Blick zu. »Schnell, alles wieder zurück in die Kiste!«, zischte Charlotte.
Hektisch warfen sie die Requisiten zurück in die Truhe und schlossen den Deckel. Keinen Augenblick zu früh, denn in diesem Moment bewegte sich der Riegel zur Seite. Humboldts Kopf erschien in der Öffnung.
»Na endlich!«, rief er. »Ich habe euch schon überall gesucht!«
Als er sah, dass die beiden neben der Kiste hockten, verengten sich seine Augen. »Was macht ihr denn da? Ich dachte, ihr wolltet nur schnell die Koffer holen und dann wieder runterkommen.«
»Oh, ich habe Oskar nur mal deine Sammlung gezeigt«, log Charlotte. Die Aufregung hatte rote Flecken auf ihre Wangen gezeichnet. »Ich wollte ihm unbedingt deine Masken und die Schlitztrommel vorführen. Du weißt doch, die aus Tansania.«
»Ja, ich weiß«, sagte der Forscher, immer noch misstrauisch dreinblickend. »Ich hoffe, ihr habt nichts durcheinandergebracht.«
»Natürlich nicht.« Charlotte stand auf und klopfte den Staub von ihrem Kleid. »Du weißt doch, wie vorsichtig ich mit deinen Sachen umgehe.«
»Hm. Na gut.« Er sah die beiden streng an, dann sagte er: »Jetzt aber zackig! Wir müssen mit unseren Vorbereitungen fortfahren. Die Koffer liegen dort hinten unter einer Decke. Nehmt alle mit und dann kommt wieder runter.«
8
Athen, drei Tage später
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