Chroniken der Weltensucher 02 - Der Palast des Poseidon
zu fallen.«
Charlotte gab ein abfälliges Schnauben von sich. Zuerst sah sie so aus, als wäre das Thema damit für sie erledigt, doch dann schien ihr noch etwas einzufallen. Sie neigte den Kopf und fragte mit einem verschmitzten Augenaufschlag: »Hast du etwa Angst?«
»Ob ich …? Quatsch!«
»Klang aber so.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Bleiben wir doch bei den Fakten. Der Mann war betrunken. Er steuert sein Schiff gegen eine Klippe und behauptet, ein Seeungeheuer habe ihn angegriffen. Klingt für mich nach einem Fall für die Schifffahrtsbehörde.«
»Ja, wenn es nach dir ginge, wäre immer alles erklärbar«, murrte Oskar. »Was für eine trostlose Welt.«
Humboldt hob beschwichtigend die Hände. »Halt, halt. Ehe ihr beide euch an die Gurgel geht, möchte ich auch noch etwas dazu sagen. Zum einen: Du hast wahrscheinlich recht, Charlotte. Vermutlich war der Mann betrunken und vermutlich gibt es gar kein Seeungeheuer. Aber wir dürfen die Möglichkeit nicht außer Acht lassen, dass irgendetwas anderes den Untergang des Schiffes bewirkt hat. Vielleicht ein Tornado oder eine Anomalie im Wasser. Man hört ja immer wieder von sogenannten Malströmen.« Er ließ seine Hände auf den Tisch sinken. »Für mich gibt es gute Gründe, diesen Auftrag anzunehmen. Wie ihr wisst, habe ich vor, mein Luftschiff in naher Zukunft zu modernisieren. Mein Labor bedarf einer dringenden Überholung und ihr benötigt eine neue Ausrüstung. Alles Dinge, die Geld kosten. Nikomedes hat mir für die Aufklärung des Falles einen beträchtlichen Betrag angeboten. Wenn es uns gelingt herauszubekommen, was am 19. Mai dieses Jahres tatsächlich geschehen ist, sind wir gemachte Leute. Dieser Auftrag, zusammen mit dem Patent für ein Luftschiff, das ich Graf von Zeppelin verkauft habe, spült einiges an Bargeld in unsere Kassen. Damit können wir eine ganze Weile gut leben und forschen. Abgesehen von der Reputation, die uns ein solcher Auftrag einbringt.« Er zwinkerte ihnen zu. »Wenn ihr mich fragt: Ich halte das Risiko wirklich für überschaubar und werde den Auftrag, wenn nötig, auch alleine übernehmen. Meine Frage an euch lautet also: Seid ihr mit dabei oder wollt ihr lieber hierbleiben?«
»Ob wir …?« Charlotte verschränkte die Arme vor der Brust. »Natürlich kommen wir mit, nicht wahr, Oskar?«
Oskar stieß einen tiefen Seufzer aus. So richtig große Lust verspürte er keine, aber als Feigling wollte er auch nicht dastehen.
»Klar«, murmelte er.
»Fein.« Humboldt rieb sich die Hände. »Dann können wir gleich zum nächsten Punkt kommen. Ich habe die Angaben des Reeders überprüft und festgestellt, dass er vertrauenswürdig ist. Die Familie Nikomedes zählt zu den reichsten in ganz Griechenland. Sie ist sehr alt und einflussreich. Ihr gehören nicht nur die erwähnten Frachter, sondern auch eine Fischfangflotte sowie die daran angeschlossenen Betriebe. Fabriken, die den Fisch zu Konserven verarbeiten, Lagerhallen, Versandunternehmen, das ganze Programm.« Humboldt seufzte. »Tja, das ist die Zukunft, meine Lieben: Fisch aus der Dose, wann immer man Appetit darauf hat. Wahlweise natürlich auch Muscheln oder Tintenfische.«
Charlotte rümpfte die Nase. Oskar hingegen hatte nichts gegen Dosenfisch. Wenn man Hunger hatte, schmeckte alles lecker, selbst irgendein matschiges Seelebewesen in Öltunke.
»Morgen werden wir die Pachacútec aus ihrem Heuschober in Spandau befreien«, fuhr der Forscher fort. »Die alte Dame dürstet danach, wieder mal Wind unter ihrem Rock zu spüren. Unser Ziel ist Athen.« Er tippte auf die Karte. »Laut Nikomedes’ Angaben sind auch andere Reedereien von den Angriffen betroffen. Es wird gemunkelt, dass sich die Gesamtzahl der verschwundenen oder gesunkenen Schiffe auf ein Dutzend beläuft. Das Merkwürdige ist, dass bisher nur Metallschiffe betroffen waren. Holzschiffe wurden verschont. Die Berichte stammen von den Inseln Milos, Ios und Anafi, alle im Bereich des Kretischen Meeres. Wenn es einen ersten Anlaufpunkt gibt, dann die Schifffahrtsbehörde in Athen.«
»Und was ist mit dem Seeungeheuer?«, fragte Oskar unbehaglich. »Sollten wir uns nicht wenigstens irgendwo erkundigen, ob ein solches Wesen schon mal gesichtet worden ist?«
»Gute Idee«, sagte Humboldt. »Wie es der Zufall so will, befindet sich in Athen das größte Institut für Meeresbiologie im gesamten Mittelmeerraum. Auch wenn die Chancen gering sind, dass wir dort etwas über das Ungeheuer erfahren, so ist
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