Chroniken der Weltensucher 02 - Der Palast des Poseidon
Haushälterin war schweißgebadet. Die Visionen kosteten sie jedes Mal erhebliche Kraft. Meist musste sie sich danach hinlegen und ausruhen, doch dafür war jetzt keine Zeit.
»Wie hat er uns nur finden können?«, fragte Charlotte, nachdem sie den Aufzug betreten hatten. »Kann es sein, dass er uns irgendwie gefolgt ist?«
»Ausgeschlossen.« Oskar blickte ernst. »Dazu hätte er ein Luftschiff besitzen müssen. Er muss irgendwie herausgefunden haben, wohin wir reisen, sich dann in den nächstbesten Zug gesetzt haben und hierher gefahren sein.«
»Aber der Einzige, der wusste, wohin wir wollen …«
»… war Papastratos«, vollendete Oskar den Satz. »Lieber Himmel, ich kann nur hoffen, dass dem alten Mann nichts geschehen ist.«
»Du glaubst doch nicht etwa, dass er -«
Der Fahrstuhl hielt an. Die Türen schwangen auf, dann wurden die Fahrgäste auf den überfüllten Vorplatz gespült. Charlotte blickte sich um. Hinter einer Litfaßsäule stand ihre Kutsche. Sie zog Eliza hinter sich her und steuerte auf ihr Fahrzeug zu. Als der Kutscher sie bemerkte, stieg er vom Kutschbock und eilte ihnen entgegen. Er nahm Eliza bei der Hand und half ihr das Treppchen empor. Charlotte und Oskar setzten sich auf ihre Plätze und blickten den Fahrer erwartungsvoll an.
»Où est Monsieur Humboldt? « Der Kutscher runzelte die Stirn.
»Il viendra plus tard«, antwortete Charlotte, so gut sie konnte. Sie hatte zwar einige Jahre Französischunterricht gehabt, war aber in letzter Zeit ein wenig aus der Übung. »Déposez-nous à l’hôtel, s’il vous plaît. Le plus vite possible. «
»Mais oui.« Der Kutscher nickte und schwang die Peitsche. Die Pferde gaben ein Wiehern von sich, dann preschten sie los.
Carl Friedrich von Humboldt stürmte die eisernen Treppen hinab. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend und dabei ein mörderisches Tempo vorlegend, preschte er Richtung Erdgeschoss. Vorbei an den Aufsehern, die viel zu überrascht waren, um ihm Einhalt zu gebieten, vorbei an den Ausflüglern, die hektisch auswichen, um nicht von ihm umgerannt zu werden.
Wütende Rufe schallten hinter ihm her. Dem Forscher war das egal. Er hatte nur ein Ziel: Er wollte dem Mann gegenübertreten, der sie so hartnäckig verfolgte. Er wollte wissen, wer er war und was er wollte. Und vor allem interessierte ihn, in wessen Auftrag er handelte.
Keuchend und schnaufend erreichte er den untersten Treppenabsatz. Er nutzte die Gelegenheit, um kurz zu pausieren und nach dem Fremden Ausschau zu halten. Er entdeckte ihn sofort. Der Mann stand immer noch neben dem Eisverkäufer, blickte aber nicht nach oben. Etwas anderes schien seine Aufmerksamkeit zu erregen. Etwas in Richtung des Westpfeilers.
Humboldt schwante Böses. Er rannte die letzten Stufen hinunter und trat auf den Vorplatz. Energisch eilte er zwischen einer Schlange von Ausflüglern hindurch, die vor dem Kassenhäuschen anstanden. Ein paar Meter weiter lichtete sich die Menge. Die Menschen bildeten eine schmale Gasse, durch die er sich ungesehen seinem Ziel nähern konnte. Als er nur noch zwanzig Meter von dem Eiswagen entfernt war, trat Humboldt ins Freie – und blieb verdutzt stehen.
Er blickte nach allen Seiten, ging ein paar Schritte, umrundete den Eisverkäufer und stellte sich auf Zehenspitzen, um über die Köpfe der Ausflügler zu spähen.
Nichts.
Der Fremde war verschwunden. Als hätte er sich in Luft aufgelöst.
Humboldt eilte zu einem der Eisverkäufer.
»Où est l’homme?«, sprach er den dicken Kerl unter dem rot-weiß geringelten Sonnenschirm an, der so aussah, als würde ihm sein Eis selbst sehr gut schmecken. »Qui?«
»Le grand, avec le chapeau et le long manteau.« Der Eisverkäufer zuckte die Schultern. »Je ne sais pas. Je n’ai vu personne. «
Verdammt. Der Mann hatte keine Ahnung. Behauptete, er habe niemanden gesehen, auf den die Beschreibung zutraf. Dabei war der Kerl doch wirklich nicht zu übersehen gewesen.
Humboldt presste die Lippen aufeinander und trat wieder hinaus auf den Platz. »Wo steckst du nur?«, murmelte er vor sich hin. »Vor einer Minute warst du doch noch hier. Du kannst dich doch nicht einfach in Luft auflösen!«
Er suchte den Platz ab, aber das Gewimmel wurde mit jeder Minute größer. Der Sonnenschein und das warme Wetter lockten die Besucher zu Tausenden hinaus ins Freie.
Als klar war, dass der Fremde unauffindbar bleiben würde, traf Humboldt eine Entscheidung: Sie würden noch heute die Stadt verlassen. Dann machte er auf
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